Zyklus der Erdenkinder 06 - Ayla und das Lied der Höhlen
tut mir so leid, Janella. Du solltest zu ihm gehen, solange er noch atmet, und ihn trösten. Sein Elan muss jetzt den Weg in die nächste Welt finden, und ich bin mir sicher, dass dein Sohn Angst hat. Obwohl er es vielleicht nicht zeigt, wird er dankbar für deine Nähe sein«, wies die mächtige Frau sie an.
»Da er noch atmet, meinst du, er könnte aufwachen?«, fragte Janella.
»Schon möglich«, antwortete die Erste.
Jemand half der Frau auf und führte sie zu ihrem sterbenden Sohn. Ayla hob ihre Tochter hoch, drückte sie einen Moment fest an sich, bedankte sich bei Hollida und ging zu der Felsnische, in der sie untergebracht waren. Die beiden anderen Zelandonia schlossen sich ihr an.
»Ich wünschte, ich könnte etwas tun. Ich komme mir so hilflos vor«, sagte der Zelandoni der Fünften Höhle.
»In einem solchen Fall geht es uns allen so«, meinte die Erste.
»Wie lange wird er noch leben, was meinst du?«, fragte er.
»Das weiß man nie. Es könnte noch Tage dauern«, antwortete die Zelandoni der Neunten Höhle. »Wenn du willst, dass wir hierbleiben, dann tun wir das, aber ich mache mir Gedanken darüber, wie ausgedehnt dieses Erdbeben wohl war und ob man es in der Neunten Höhle auch gespürt hat. Dort sind einige nicht zum Sommertreffen gegangen ...«
»Ihr solltet nachsehen, wie es ihnen geht«, riet ihnen der Fünfte. »Du hast Recht, man kann nicht wissen, wie lange der Junge noch unter uns weilt, und du bist immerhin für die Neunte Höhle und deren Wohlergehen verantwortlich. Ich kann mich hier um alles Nötige kümmern. Das ist nicht das erste Mal. Den Elan eines Menschen in die nächste Welt zu begleiten gehört nicht zu meinen Lieblingsaufgaben, aber es muss getan werden, und es ist wichtig, dass es auf korrekte Weise geschieht.«
In dieser Nacht schliefen alle außerhalb der Felsnischen, die meisten in Zelten. Sie hatten zu viel Angst, sich drinnen aufzuhalten, da noch immer Felsbrocken herabfallen konnten. Es gab ein paar Nachbeben, und noch mehr Fels löste sich von den Wänden und Decken der Abris, aber die Brocken waren nicht so groß wie der, der dem Jungen auf den Kopf gefallen war. Bis überhaupt wieder jemand das Bedürfnis hatte, seine Wohnstätte aufzusuchen, würde noch einige Zeit vergehen. Doch wenn die Kälte und der Schnee des gletschernahen Winters einsetzten, würden die Menschen die Gefahr durch herabstürzende Felsen vergessen und froh um einen Schutz vor der Witterung sein.
Die Gruppe aus Menschen, Pferden und dem Wolf machte sich am Morgen auf den Weg. Ayla und die Erste hielten an, um nach dem Jungen zu sehen, vor allem aber, um sich zu vergewissern, ob seine Mutter der Situation gewachsen war. Sie beide brachen eher mit gemischten Gefühlen auf. Einerseits wären sie gern geblieben, um der Mutter des sterbenden Jungen beizustehen, andererseits waren sie jedoch in Sorge um alle, die im Wohnplatz der Neunten Höhle der Zelandonii zurückgeblieben waren.
Sie wandten sich nach Süden und folgten den Windungen des Hauptflusses stromabwärts. Die Entfernung war nicht allzu groß, obwohl sie erneut den Hauptfluss überqueren, das Hochland erklimmen und wieder hinabsteigen mussten, da der sich schlängelnde Fluss das Wasser an einer Stelle gegen die Felswände drückte, doch dank der Pferde legten sie den Weg leichter und schneller zurück. Am späten Nachmittag waren sie in Sichtweite der Kalksteinwand, in der sich der große Abri der Neunten Höhle befand, mit der aus dem Überhang ragenden Basaltsäule, die aussah, als könnte sie im nächsten Moment umfallen. Angestrengt hielten sie Ausschau nach Schäden an ihrem Zuhause, die auf Verletzungen der Bewohner hindeuten könnten.
Im Waldflusstal überquerten sie den kleinen Fluss, der in den Hauptfluss mündete. Auf dem nach Süden liegenden Felsvorplatz wurden sie bereits von einigen Menschen erwartet. Jemand hatte sie kommen sehen und die anderen benachrichtigt. Als sie um den Vorsprung bogen, auf dem sich das Signalfeuer befand, stellte Ayla fest, dass es noch glomm. Anscheinend war es vor kurzem angezündet worden, und Ayla fragte sich bang nach dem Grund.
Da die Neunte Höhle aus so vielen Menschen bestand, war die Anzahl derer, die aus dem einen oder anderen Grund nicht zum Sommertreffen gegangen waren, fast so groß wie die Gesamtzahl der Angehörigen einiger kleinerer Höhlen. Der Neunten Höhle gehörten die meisten Menschen aller Höhlen der Zelandonii an, einschließlich der Neunundzwanzigsten und der Fünften, die
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