Zyklus der Erdenkinder 06 - Ayla und das Lied der Höhlen
Ayla.
»Ja, ja, aber die Fünfte Höhle hat ein paar Verletzte, einer davon schwer«, erwiderte die Frau. »Vielleicht siehst du ihn dir mal an.«
Ayla bemerkte ihren sorgenvollen Tonfall. »Jondalar, würdest du die Pferde nehmen und nachsehen, wie die Lage ist? Ich bleibe hier und helfe Zelandoni.«
Sie folgte der beleibten Frau zu der Felsnische, vor der ein Junge auf einem Fell lag, das mit der Fellseite nach unten auf dem Boden ausgebreitet war, damit er eine gepolsterte Unterlage hatte. Zusätzliche Polster und Decken waren unter ihn geschoben worden, um Kopf und Schultern anzuheben. Direkt unter seinem Kopf lagen weiche, mit Blut getränkte Polster. Noch immer sickerte Blut aus einer Wunde. Ayla nahm ihr Kind aus der Tragedecke, breitete die Decke auf dem Boden aus und legte die Kleine darauf. Wolf ließ sich neben ihr nieder. Dann tauchte Hollida auf.
»Ich passe auf sie auf«, bot sie an.
»Vielen Dank«, erwiderte Ayla. Sie sah eine Ansammlung von Menschen, die eine Frau trösteten, und ihr wurde klar, dass es sich wahrscheinlich um die Mutter des Jungen handelte. Ayla wusste, wie es ihr gehen würde, wenn es ihr Sohn wäre. Sie wechselte einen Blick mit der Ersten und begriff, dass es schlimm um den Jungen stand.
Ayla kniete nieder, um den Verletzten zu untersuchen. Er lag im Freien im Sonnenlicht, obwohl hohe Wolken die Helligkeit etwas abschirmten. Zuerst stellte sie fest, dass er bewusstlos war, aber atmete, wenn auch langsam und unregelmäßig. Er hatte viel Blut verloren, doch das war bei Kopfwunden üblich. Viel schwerwiegender war die hellrote Flüssigkeit, die aus Nase und Ohren sickerte. Das bedeutete, dass der Schädel gebrochen und die weiche Masse darin verletzt war, was für das Kind nichts Gutes verhieß. Ayla verstand die Sorge der Ersten. Sie hob die Lider des Jungen und schaute sich beide Augen an; die eine Pupille zog sich im Licht zusammen, die andere war geweitet und reagierte nicht: noch ein schlechtes Zeichen. Sie drehte seinen Kopf leicht zur Seite, damit der blutige Schleim aus seinem Mund lief und seine Atemwege nicht verstopfte.
Sie musste sich beherrschen, um nicht den Kopf zu schütteln und damit der Mutter zu zeigen, wie hoffnungslos die Lage ihrer Meinung nach war. Ayla stand auf und gab der Ersten durch Blicke ihre düsteren Befürchtungen zu verstehen. Beide traten zum Zelandoni der Fünften Höhle, der ihnen zugesehen hatte. Der Fünfte war zu Hilfe gerufen worden, als man den verletzten Jungen fand, und er hatte ihn bereits untersucht. Die Erste hatte er dazugebeten, damit diese seine Einschätzung bestätigen konnte.
»Was meint ihr?«, fragte der Mann flüsternd und schaute zuerst die ältere, dann die jüngere Frau an.
»Ich glaube, für ihn besteht keine Hoffnung mehr«, sagte Ayla sehr leise.
»Ich fürchte, dem muss ich zustimmen«, sagte Die, Die Die Erste Ist. »Bei einer solchen Verletzung kann man sehr wenig tun. Er hat nicht nur Blut verloren, sondern es sickern auch andere Flüssigkeiten aus seinem Kopf. Bald wird die Wunde anschwellen, und das wird das Ende sein.«
»So sehe ich es auch. Ich werde es seiner Mutter beibringen müssen«, seufzte der Zelandoni der Fünften.
Die drei Zelandonia gingen zu der kleinen Gruppe, die sich um die auf dem Boden sitzende Frau versammelt hatte. Als die Mutter des Jungen in die Gesichter der drei Näherkommenden blickte, brach sie in Schluchzen aus. Der Zelandoni der Fünften Höhle kniete sich neben sie.
»Tut mir leid, Janella. Die Große Mutter ruft Jonlotan wieder zu sich. Er war so voller Leben, so eine Freude, dass Doni es ohne ihn nicht aushält. Sie liebt ihn zu sehr.«
»Aber ich liebe ihn auch. Doni kann ihn nicht stärker lieben als ich. Er ist so jung. Warum muss sie ihn mir jetzt nehmen?«, schluchzte Janella.
»Du wirst ihn wiedersehen, wenn du an die Brust der Mutter zurückkehrst und durch die nächste Welt reist«, tröstete der Fünfte sie.
»Aber ich will ihn jetzt nicht verlieren. Ich will sehen, wie er heranwächst. Kannst du denn nichts machen? Du bist die mächtigste Zelandoni überhaupt«, flehte Janella die Erste an.
»Ich versichere dir, wenn es etwas gäbe, würde ich es tun. Du glaubst nicht, wie sehr es mich schmerzt, das sagen zu müssen, aber für jemanden mit einer so schweren Verletzung gibt es keine Hilfe«, erwiderte Die, Die Die Erste Ist.
»Die Mutter hat so viele, warum will sie ihn auch?«, schluchzte Janella.
»Das ist die eine Frage, auf die wir wohl nie eine Antwort finden werden. Es
Weitere Kostenlose Bücher