Zyklus der Erdenkinder 06 - Ayla und das Lied der Höhlen
wegschicken, weil ich so verletzt war, aber sie liebte mich trotzdem noch. Sie hat ein Hochzeitsgewand für mich gemacht, obwohl sie Ranec versprochen war. Jetzt empfand Jondalar beim Gedanken, er könnte Ayla verlieren, den gleichen peinigenden Schmerz wie damals, als er glaubte, er würde sie an Ranec verlieren. Nur war es dieses Mal noch schlimmer. Dieses Mal war er derjenige, der sie verletzt hatte.
Blindlings lief Ayla davon, Tränen verschleierten ihren Blick, vermochten ihren Kummer aber nicht fortzuwaschen. Sie hatte in der Neunten Höhle an Jondalar gedacht, hatte von ihm geträumt, sich auf dem Weg hierher nach ihm verzehrt und sich zur Eile angetrieben, um endlich bei ihm zu sein. Jetzt konnte sie nicht einfach ins Lager zurückkehren und sich den vielen Menschen aussetzen. Sie musste allein sein. Sie ging zur Pferdewiese und führte Winnie aus der Umfriedung, legte ihr die Decke auf den Rücken und saß auf, dann stürmte sie mit ihr aufs offene Grasland zu.
Winnie war noch müde von der Anstrengung der vergangenen zwei Tage, reagierte aber auf das Drängen ihrer Reiterin und galoppierte über die Ebene. Das Bild von Marona und Jondalar ging Ayla nicht aus dem Kopf, sie konnte an nichts anderes denken, vergaß bald völlig, die Stute zu führen, und ließ ihr freien Lauf. Als Winnie merkte, dass Ayla ihr weder Richtung noch Tempo vorgab, wurde sie langsamer, machte kehrt, ging in gemächlicherem Schritt zurück und blieb hin und wieder stehen, um zu grasen. Als sie sich schließlich dem Lagerplatz näherten, wurde es schon dunkel und merklich kühler, doch Ayla spürte nichts als die betäubende Kälte tief in ihrem Inneren. Erst als sie die Pferdewiese erreichten und die ersten Menschen sahen, wurde sich Ayla ihrer Umgebung wieder bewusst.
»Ayla, alle fragen schon, wo du bleibst«, sagte Proleva. »Jonayla hat nach dir gesucht, und als du nicht kamst, ist sie nach dem Essen zu Levela gegangen, um noch mit Bokovan zu spielen.«
»Ich bin ausgeritten«, sagte Ayla nur.
»Jondalar war auch da«, sagte Joharran. »Er ist vor einer Weile ins Lager gestürzt. Ich habe ihm gesagt, dass du nach ihm suchst, aber er hat nur unverständlich vor sich hin gemurmelt.«
Mit starrem Blick ging Ayla über den Lagerplatz, grüßte Zelandoni nicht, als sie an ihr vorbeikam, ja, nahm sie nicht einmal wahr.
Die ältere Frau musterte sie eingehend. Sie wusste, dass etwas nicht in Ordnung war. »Ayla, seit du angekommen bist, haben wir dich kaum gesehen«, sagte die Donier.
»Das stimmt wohl«, sagte Ayla.
Sie war in Gedanken ganz offensichtlich woanders. Das »Unverständliche«, das Jondalar vor sich hin gemurmelt hatte, war für Zelandoni durchaus verständlich gewesen, obwohl sie die Wörter nicht gehört hatte. Sein Verhalten war deutlich genug. Zudem hatte sie gesehen, wie Marona nachlässig gekleidet aus dem kleinen Waldstück aufgetaucht war, aber nicht auf dem Pfad, den die Angehörigen der Neunten Höhle für gewöhnlich nahmen. Sie kam aus einer anderen Richtung auf den Lagerplatz, ging direkt in das Zelt, das sie mit anderen teilte, und packte ihre Sachen. Proleva sagte sie, ein paar Freundinnen aus der Fünften Höhle hätten sie eingeladen, bei ihnen zu wohnen.
Zelandoni hatte von Anfang an über Jondalars Tändelei mit Marona Bescheid gewusst. Zuerst hatte sie es für harmlos gehalten. Sie kannte seine wahren Gefühle für Ayla und dachte, Marona wäre nur eine vorübergehende Laune, eine Ablenkung während der Zeit, in der sich Ayla mit anderen Aufgaben beschäftigen musste und gezwungenermaßen immer wieder von ihm getrennt war. Sie hatte jedoch nicht mit Maronas Entschlossenheit gerechnet, ihn zurückzugewinnen und sich an Ayla zu rächen, ebenso wenig wie mit ihrer Fähigkeit, sich ihm aufzudrängen. Die körperliche Anziehung zwischen den beiden war immer stark gewesen und früher schon die Grundlage ihrer Beziehung. Manchmal, so hatte Zelandoni geglaubt, war es die einzige Gemeinsamkeit zwischen ihnen.
Die Donier vermutete, dass Ayla nach ihrer Prüfung in der Höhle noch nicht wieder ganz bei Kräften war. Wie sehr das Erlebnis die junge Frau mitgenommen hatte, zeigte sich allein schon an ihren eingefallenen Wangen, doch Zelandoni sah es auch in ihren Augen. Die Erste hatte zu viele Gehilfen von ihrer Berufung zurückkommen sehen - wenn sie aus einer Höhle heraustraten oder von einem längeren Aufenthalt in der Steppe zurückkehrten -, um nicht zu wissen, wie gefährlich diese Prüfung war. Sie
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