Zyklus der Erdenkinder 06 - Ayla und das Lied der Höhlen
Erklärung waren der letzte Hinweis, den sie benötigte, um sich selbst von deren Richtigkeit zu überzeugen. Zudem war sie bereits länger der Ansicht, dass die Menschen, insbesondere Frauen, wissen sollten, wie neues Leben entsteht.
Wissen war Macht. Wenn eine Frau wusste, wodurch ein Kind in ihr zu wachsen begann, konnte sie über ihr eigenes Leben bestimmen. Anstatt plötzlich schwanger zu sein, ob sie sich nun ein Kind wünschte oder nicht, ob der Zeitpunkt für sie der richtige war, ob sie gesund genug war oder bereits genügend Kinder hatte - jetzt hatte sie eine Wahl. Wenn eine Schwangerschaft durch das Paaren mit einem Mann ausgelöst wurde und nicht durch einen äußeren Einfluss, der jenseits ihrer Macht lag, konnte sie beschließen, kein Kind zu haben und einfach darauf verzichten, mit einem Mann die Wonnen zu teilen. Natürlich würde es einer Frau nicht unbedingt leichtfallen, eine solche Entscheidung zu treffen, und Zelandoni wusste auch nicht, wie die Männer darauf reagieren würden.
Vermutlich würde es ungeahnte Folgen haben, doch es gab noch einen weiteren Grund, weshalb die Erste ihrem Volk mitteilen wollte, dass Kinder das Ergebnis der Vereinigung von Mann und Frau waren. Der gewichtigste Grund überhaupt: Es war die Wahrheit. Diese sollten auch die Männer erfahren. Männer hatten zu lange als unnötig für die Fortpflanzung gegolten. Es war nur recht und billig, ihnen zu sagen, dass sie wesentlich an der Schaffung neuen Lebens beteiligt waren.
Und Zelandoni glaubte, dass die Menschen dafür mehr als bereit waren. Ayla hatte Jondalar schon von ihrer Beobachtung erzählt, und er war beinahe überzeugt. Mehr noch, er wollte es glauben. Jetzt war der richtige Zeitpunkt. Wenn Zelandoni es vermutet und Ayla es eigenständig herausgefunden hatte, dann konnten andere das auch. Die Erste hoffte, es würde nicht allzu verheerende Auswirkungen haben, wenn es allgemein verkündet wurde, doch wenn die Zelandonia es den Menschen jetzt nicht sagten, würden sie es über kurz oder lang von jemand anderem erfahren.
Sobald Ayla die neue letzte Strophe des Liedes von der Mutter vorgetragen hatte, wusste Zelandoni, dass die Wahrheit jetzt offenbart werden musste. Um aber akzeptiert zu werden, durfte sie nicht beiläufig oder bruchstückhaft mitgeteilt werden. Die Verkündung musste eine dramatische Wirkung entfalten. Die Eine, Die Die Erste Ist, war klug genug zu verstehen, dass der Großteil dessen, was Gehilfen während ihrer Berufung, der Mutter zu dienen, zustieß, in ihrem eigenen Kopf stattfand. Einige ältere Zelandonia betrachteten den ganzen Prozess mittlerweile mit einem leicht spöttischen Blick, doch immer wieder waren auch unerklärliche Ereignisse im Spiel, die von unbekannten oder unsichtbaren Kräften ausgelöst wurden.
Eben solche Ereignisse verwiesen auf eine wahre Berufung, und Aylas Erfahrungen in der Grotte gehörten in den Augen der Ersten auf jeden Fall dazu. Insbesondere die letzte Strophe des Liedes überzeugte sie. Ayla besaß zwar ein außerordentliches Gespür für Sprache, ihr Gedächtnis war beeindruckend, sie hatte auch gelernt, die Überlieferungen und Legenden spannend und mitreißend zu erzählen, aber sie hatte nie Talent gezeigt, neue Strophen zu erfinden. Und doch hatte sie gesagt, dass diese Zeilen ihren Kopf ausgefüllt, dass sie die Strophe von Anfang bis Ende gehört hatte. Wenn Ayla das den Menschen mit derselben Überzeugungskraft erklären konnte wie den Zelandonia, würden sie ihr glauben.
Schließlich kam die Erste zu dem Ergebnis, dass der Lauf der Dinge nun nicht mehr aufzuhalten war, und so verkündete sie: »Es ist schon spät, und die Versammlung hat sich lange hingezogen. Ich denke, wir sollten jetzt gehen und uns morgen früh wieder zusammenfinden.«
»Ich hatte Jonayla versprochen, heute mit ihr auszureiten«, erklärte Ayla. »Aber die Versammlung hat sehr lange gedauert.«
Kein Wunder, dachte Proleva mit einem Blick auf die schwarzen Zeichen an Aylas Schläfe, sagte aber nichts. »Jondalar hörte zufällig, wie sie mir erzählte, sie wolle mit dir ausreiten, und mich fragte, wo du bliebst und warum es so lange dauere. Dalanar versuchte ihr zu erklären, dass du bei einem sehr wichtigen Treffen warst und niemand wüsste, wie lange du ausbleiben würdest, und dann hat Jondalar vorgeschlagen, mit ihr auszureiten.«
»Das freut mich«, sagte Ayla. »Ich habe sie nur ungern enttäuscht. Sind sie schon lange fort?«
»Fast den ganzen Nachmittag. Ich denke, sie
Weitere Kostenlose Bücher