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Schaukämpfer.
    »Keine Knochenbrüche«, sagte sie und strich über Agnews modischen Lockenwild wuchs. »Kein Blut. Kein blauer Fleck.«
    Was letzteres betraf, konnte man wirklich nicht sicher sein, aber solche Dinge sagte man eben, und sehr wahrscheinlich hielt solcher Zuspruch den Schaden in Grenzen.
    Judith lief noch immer herum und fing Phantom-Falter. Sie war ein geschmeidiges, langbeiniges kleines Mädchen, aber sie hatte schon Tiefe, Noelle darin ganz ähnlich.
    »Du hast dein Gebiet erkundet«, sagte Melvin und versetzte Agnew mit gespielter Männlichkeit einen Stoß zwischen die Schulterblätter. »Du bist abgeworfen worden, aber du bist wieder aufgestanden und sitzt fest im Sattel.«
    »Es war das blöde Seil«, sagte Agnew.
    »Reit weiter, Cowboy«, verfügte Melvin patriarchalisch und beispielhaft.
    »Warum sollte er?« wollte Judith aus einiger Entfernung und von niemand im besonderen wissen, außer vom Universum selbst.
    »Beweg dich«, rief Melvin. »Zeig’s ihnen. Zeig was du drauf hast.« Agnew schaute skeptisch drein, aber er begann wieder herumzutoben. Glücklicherweise waren sie jetzt bei den Buchen angelangt, wo die Wurzelstränge zwar dicker, aber daher auch besser sichtbar waren. Agnew hatte angefangen, sein Lasso wie eine Angelschnur zu benutzen: Alle Vertiefungen im Wurzelwerk waren voller Fische. Manche enthielten tatsächlich ein wenig Wasser. Es hatte wochenlang immer wieder geregnet. Noelle war die ganze Zeit in einem modischen Regenmantel unterwegs gewesen.
    »Ich sehe das Ende der Fahnenstange«, sagte Melvin zu Noelle. »Es muß was passieren, oder ich klappe zusammen.«
    Die zwei Kinder rannten nun den Abhang hinunter zu der Lichtung, wo jedermann kehrtmachte und wieder hangaufwärts stieg. Die vergleichsweise langgliedrige Judith, vergleichsweise unbelastet von Rancherzubehör en miniature , kam mühelos als erste an. Sie begann einen Aschanti-Tanz, den sie in der Schule im Fernsehen gesehen hatte.
    Noelles Herz sank mit jedem Schritt abwärts und pochte schneller. Sie hatte wie gewöhnlich vergessen, daß aller Mut einen verläßt, wenn die Gefahr, welcher Art auch immer, zeitlich, räumlich oder beides, einem unmittelbar bevorsteht.
    »Ich habe daran gedacht, eine Versetzung zu beantragen«, sagte Melvin. »Ich habe dir nichts davon erzählt, weil ich nicht wollte, daß du dir Sorgen machst.« Er versuchte, sich aus seinem Trapperwams zu schälen, obwohl es nicht wärmer geworden war und Noelle von Minute zu Minute mehr fröstelte.
    Sie hatten sich jetzt alle auf der Lichtung versammelt. Der Müll ringsum war aufgeweicht, das meiste davon war vermutlich von Riesenratten gefressen worden. Keine andere Menschenseele war zu sehen oder auch nur zu hören, zweifellos aufgrund der unbeständigen Wettervorhersage.
    »Tja, dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als umzukehren«, sagte Noelle fast augenblicklich. »Nein!!!« Den Trick laut und unisono zu protestieren, hatten die Kinder in der Schule gelernt.
    »Laßt uns einen Moment ausruhen«, schlug Melvin vor.
    »Es ist zu klitschig«, protestierte Noelle.
    »Ich hab’ noch den ›Frontiersman‹ vom letzten Mal dabei«, verkündete Melvin und zog die Zeitschrift aus der Brusttasche seines abgelegten Wamses. »Ich reiße ihn mitten durch, dann können wir jeder die Hälfte nehmen. Ich komme sowieso nicht dazu, ihn zu lesen.«
    »Wir können doch nicht zwischen dem ganzen Müll sitzen. Das ist ekelhaft. Es ist entwürdigend.«
    Aber Melvin saß schon auf einem der zurechtgestutzten Baumsegmente und streckte ihr ritterlich die größere Portion der zweigeteilten Zeitschrift entgegen.
    »Nur einen Augenblick, Noelle«, sagte er wehmütig, ohne ein Lächeln. »Ich muß mich ein wenig regenerieren.«
    Also ließ sie sich neben ihm auf dem Baumstumpf nieder. Sie bemühte sich sehr, ihr Hinterteil auf dem kleinen, dünnen Papierstoß zu halten. »Geht nicht zu weit weg«, rief sie den Kindern zu. »Wir machen hier nur ganz kurz halt.«
    Melvin hatte sein Holzfällermesser gezückt und fuhr mit seinem Finger über die Schneide. Sein Blick gleichermaßen konzentriert und abwesend. Glücklicherweise war die Klinge wohl nicht allzu scharf.
    »Ich träume oft davon, wie alles eigentlich hätte sein sollen«, sagte Melvin. »Auf irgendeiner Insel. Unserer Insel. Du im Bastrock, ich im Leopardenfell, vielleicht einem weißen Leopardenfell, die ganze Zeit Sonne und zum Essen Brotfrüchte, Mango, Kokosnüsse und fliegende Fische. Tag und Nacht

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