Nachbarschaft lebte. Zumindest erklärte es, warum er so umstandslos verschwunden war. Darüber hinaus hatte er, wenn er ein Haus wie dieses besaß, fast mit Sicherheit Frau und Kinder, gab es doch sogar ein Haustier im Käfig.
Aber sie konnte sich immer noch nicht bewegen oder wegschauen. So also war es, zur Salzsäule zu erstarren, zumindest kurzfristig, bis Melvin zu ihr aufschließen würde, ein Messer in der einen, eine Miniaturaxt in der anderen Hand. Der Mann vor ihr würde zwangsläufig bald eine Verschnaufpause einlegen, da er fast mit Sicherheit nicht an körperliche Ausdauerarbeit gewöhnt war.
Von einem Moment zum anderen sah er Noelle direkt in die Augen.
Obwohl sein Haar kaum in Unordnung geraten war, war sein Gesicht eine Maske der Irritation, mit Augen, aus denen Entsetzen sprach, Augen, die so riesig waren, als würden sie nie wieder zu ihrer früheren Größe zurückfinden.
Noelle drehte sich um und rannte davon. Sie schaffte es, wie jeder in einer solchen Lage, all den Wurzeln, Dornbüschen und Erdlöchern auszuweichen. In Sekundenschnelle war sie wieder auf der friedlichen und menschenleeren Schneise und stolperte darüber hinweg. Innerhalb einer Minute war alles in Aufruhr. Sie rief: »Melvin! Melvin!«
Melvin antwortete. »Hier, verflucht.«
Bevor sie ihn finden konnte, war sie bereits auf der anderen Seite des Dickichts. Die Kinder hatten in diesem Moment zu spielen aufgehört und schlenderten auf sie zu.
»Was ist los, Mami? Ist was passiert?«
»Ich bin hier !« brüllte Melvin aus dem Gebüsch. »Verdammt!«
»Ich glaube, Euer Vater hat sich wehgetan«, sagte Noelle. »Laßt uns sehen, ob wir ihm helfen können, ja?«
Melvins linke Hand war blutüberströmt. Es gehörte seit jeher zu ihren ganz intimen Kenntnissen voneinander, daß bei ihm die übliche Differenzierung zwischen Rechtshändigkeit und Linkshändigkeit weniger ausgeprägt war. Bei den meisten Gelegenheiten schien er imstande, sowohl die Rechte als auch die Linke gleichermaßen effektiv zu gebrauchen. Noelle war nie zuvor jemanden mit dieser Fähigkeit begegnet.
»Wir müssen dich jetzt so schnell wie möglich nach Hause bringen und verbinden. Du mußt dich hinlegen und ausruhen, und Agnew und Judith werden mäuschenstill zu Bett gehen.«
»Wieso das denn?« fragte Judith.
Aber Agnew war auf dem gesamten Rückweg lieb und hilfsbereit.
Diesmal dauerte Noelles Nervenflattern beträchtlich länger als beim vorigen Mal, und ihre Nervosität wurde verschärft durch die unerwarteten Komplikationen, die auf Melvins Mißgeschick folgten. Er mußte zu Hause bleiben und die meiste Zeit das Bett hüten, während sein erschöpfter Organismus mit den Toxinen kämpfte. Und die ganze Zeit, dabei aber immer plastischer, sah er seine Position in der Firma schwinden, verblassen und sich auflösen. Die Vorstellung stand ihm so klar vor Augen, daß sie oft auch Noelle nur allzu deutlich schien.
»Aber sie können dich nicht so einfach loswerden. Das wäre nicht mal legal.«
»Sie kennen Mittel und Wege. Daß du dich da nicht irrst. Wir werden verhungern, Noelle. Aber komm jetzt erst her zu mir. Zieh dein Kleid aus.«
Schließlich rief Mut an. Melvin lag mit einer besonders anspruchsvollen Konstellation von Komplikationen im Bett. Streng genommen und angesichts der gegenwärtigen Umstände war seine Abwesenheit vom Schauplatz im Erdgeschoß ein Segen.
»Wie macht sich Melvin?«
»Nicht besonders gut. Er glaubt, daß die Infektion sein Gehirn vergiftet.«
»Und was glaubst du?«
»Ich habe keine Ahnung. Eins kommt zum anderen.«
»Du hast doch nach diesem Mann gefragt – den du angeblich auf unserer Party getroffen hast?«
»Ja, hab ich«, sagte Noelle. »Weiß Simon etwas über ihn?«
»Simon hat nie von ihm gehört, aber das heißt gar nichts. Der Witz ist, ich glaube, du hast seinen Namen aus der Zeitung. Ich glaube, du hast geträumt.«
»Vielleicht habe ich das wirklich«, erwiderte Noelle. »Aber wie kommst du jetzt darauf?«
»Es gab einen Kriminellen dieses Namens, und anscheinend wird sein Fall wieder aufgerollt. Ich bin im ›Buch der Verbrechen‹ der Cornflakes-Firma darauf gestoßen. Wie du weißt, bekommt man ein Exemplar für die Gutscheine auf der Rückseite der Verpackung. Simon hat sie gesammelt und eingeschickt. So was macht man, wenn man Rechtsanwalt ist. William Morley-Westall. Er lebte in Kesington Square.«
»Wie war der Name?« fragte Noelle zaghaft.
»William Morley-Westall. Der Name, den
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