unterrichtete mich Mr. Ditch, der Spediteur, und es dauerte nach Sallys Einzug ganze zehn Tage, bis Sally mir eine Einladung schickte. Während dieser Zeit, und schon als sie meine Mithilfe bei ihren Angelegenheiten zurückgewiesen hatte, hatte ich es für das beste gehalten, sie allein zu lassen. Nun schickte sie mir eine Postkarte, obwohl das Haus, das ich seitdem als das ihre betrachten mußte, nur etwa eine viertel Meile vom Haus meiner Eltern entfernt war. Es war eine Ansichtskarte von Mitylene. Sie lud mich zum Tee ein.
Der Weg führte durch die Alleen und um die Ecken einer Siedlung für Geschäftsleute und Akademiker aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Das Haus meiner Eltern war für erstere gedacht, Sallys für die letzteren. Es stand ganz am Ende einer Sackgasse, und noch immer hing an der Tür des gegenüberliegenden Hauses das Schild eines Zahnarztes.
Ich hatte das Haus oft betrachtet, als Dr. Tessler einzog und bevor ich Sally kennengelernt hatte, aber an jenem Tag setzte ich zum erstenmal meinen Fuß hinein. Von außen sah es mehr oder weniger so aus wie immer. Es war aus grauem Backstein erbaut, der so trist war, daß man sich fragte, wie jemand etwas Derartiges aussuchen konnte (was aber früher in der Umgebung von London viele taten). Rechts der Haustür (zu der eine Treppe mit zwölf mosaikverzierten Stufen in Blau und Weiß hinaufführte) ragte ein überaus ungeschlachtes stumpfwinkliges Erkerfenster vor; es erinnerte an die vorwitzige Nase eines grauen, faltigen Gesichts. Durch dieses Fenster fiel Licht in das Untergeschoß, das Erdgeschoß und das erste Stockwerk; zwischen den beiden letzteren verlief ein einfallsloser roter Fries »mit einem Akanthus-Muster«, wie ein Kranz um die Schläfen einer Matrone. Aus dem Fenster des zweiten Stocks hätte man auf den vorspringenden Erker klettern können, mit gutem Blick in das Sprechzimmer auf der anderen Seite, wenn das Fenster nicht vergittert gewesen wäre, zweifellos eine Sicherheitsmaßnahme für ein Kinderzimmer. Das hölzerne Eingangstor war aus den Angeln gesprungen und mußte zum Öffnen und Schließen angehoben werden. Es war bestürzend schwer.
Die Klingel war intakt.
Sally war naturgemäß allein im Haus.
Als sie die Tür öffnete (die zwei große Buntglasscheiben hatte), bemerkte ich sofort eine Veränderung an ihr; eigentlich die erste Veränderung während der ganzen Zeit, da ich sie kannte, denn die Frau, die vor vierzehn Tagen oder drei Wochen ins Haus meiner Eltern gekommen war, war in meinen Augen fast dasselbe Mädchen gewesen, das mit mir zur Schule gegangen war, als wir Kinder waren. Aber jetzt gab es einen Unterschied ...
Vor allem sah sie anders aus. Früher war immer etwas Besonderes an ihrer äußeren Erscheinung gewesen, mochte ihre Kleidung auch noch so ärmlich gewesen sein. Nun trug sie einen braunen Jumper, der in die Wäsche gehört hätte, und schmuddelige graue Hosen ohne Bügelfalten. Wenn eine Frau Hosen trägt, müssen sie wenigstens Pfiff haben. Diese hier waren nichts als Beinkleider. Sallys Haar war nicht so sehr in malerischer Unordnung wie in früheren Tagen, sondern schrie geradezu nach einem Friseur. Sie trug geschmacklose Sandalen. Und ihr Gesichtsausdruck hatte sich verwandelt.
»Hallo, Mel. Würdest du dich wohl einen Moment setzen, bis das Wasser kocht?« Sie führte mich in das Zimmer mit dem Erkerfenster im Erdgeschoß (das allerdings sehr hoch gelegen war, um einem Untergeschoß Raum zu geben).
»Leg deinen Mantel auf einen Stuhl.« Sie hastete überstürzt davon. Ich hatte den Eindruck, daß Sallys haushälterische Sicherheit seit den legendären Tagen ihrer arbeitsamen Kindheit geschwunden war.
Der Raum war gräßlich. Ich hatte etwas Exzentrisches, Unbehagliches mit Bücherwurmatmosphäre, vielleicht sogar einen Anflug des Makabren erwartet. Aber der Raum war auf höchst unangenehme Weise überaus gewöhnlich. Die Möbel entstammten wahrscheinlich der Massenproduktion der frühen zwanziger Jahre. Diese Sorte Möbel kann man mit noch so viel Zeitaufwand und Politur nicht in einem guten Zustand halten. Der Teppich war schäbig und schreiend bunt. In Goldrahmen hingen seelenlose kleine Bilder. Fürchterliche moderne Nippsachen standen herum. Und es gab einen Radioapparat, der offenbar schon lange defekt war. Gemessen an der Jahreszeit bot das mickrige, qualmende Kaminfeuer nicht übertrieben viel Wärme. Ich schlug Sallys Angebot aus und hüllte mich tiefer in meinen Mantel.
Es gab nichts zu
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