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Titel: Kostenlos Bücher Online Lesen
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herrannte – eine höchst bedauerliche Szene in einer wohlanständigen Ortschaft.
    Das erste Mal seit Monaten, wenn nicht Jahren, dachte ich an Sally.
    Drei Tage später stand sie ohne Vorankündigung vor der Haustür meiner Eltern. Ich selbst öffnete. »Hallo, Mel.« Man hört von Menschen, die nach vielen Jahren wieder miteinander zu reden beginnen als sei nur die entsprechende Anzahl Stunden verstrichen. Dies war ein solcher Fall. Sally sah darüber hinaus nahezu unverändert aus. Vielleicht war ihr glänzendes Haar eine halbe Schattierung dunkler, aber es war noch immer kurz und unfrisiert. Ihre bezaubernde weiße Haut war faltenlos. Ihr großer Mund lächelte reizend, aber wie immer etwas abwesend. Sie trug höchst alltägliche Kleidung, sah aber in keiner Weise wie ein Tutor oder Schulmeister aus, wenngleich sie ebensowenig wie eine Frau von Welt wirkte. Es war, dachte ich, schwer zu sagen, wie sie aussah.
    »Hallo, Sally.«
    Ich küßte sie und wollte ihr mein Beileid aussprechen.
    »Vater ist in Wirklichkeit vor meiner Geburt gestorben, wie du weißt.«
    »Ich habe so etwas gehört.« Liebend gern hätte ich mehr gehört, aber Sally legte ihren Mantel ab, ließ sich vor dem Kamin nieder und sagte:
    »Ich habe all deine Bücher gelesen. Sie waren wunderbar. Ich hätte es dir schreiben sollen.«
    »Danke«, entgegnete ich. »Ich wünschte, es gäbe mehr Leute, die das so sehen wie du.«
    »Du bist Künstlerin, Mel. Du kannst nicht erwarten, daß du auch noch Erfolg hast.« Sie wärmte ihre weißen Hände. Ich war nicht sicher, ob ich wirklich eine Künstlerin war, aber ich hörte es gern.
    Lederbezogene Sessel standen im Kreis um das Feuer. Ich setzte mich neben sie auf den Boden.
    »Ich habe oft von dir in der Literaturbeilage der ›Times‹ gelesen«, sagte ich, »aber das ist auch alles. Seit Jahren, seit viel zu vielen Jahren.«
    »Ich freue mich, daß du immer noch hier lebst«, war ihre Antwort.
    »Nicht immernoch. Wieder.«
    »Oh?« Sie lächelte auf ihre freundliche, abwesende Art.
    »Nach einer Sitzung in der Bratpfanne und einer direkt im Feuer ... Ich bin sicher, du bist vernünftiger gewesen.« Ich tastete mich immer noch vor.
    Aber sie sagte nur: »Jedenfalls bin ich froh, daß du hier lebst.«
    »Ich kann nicht behaupten, daß ich froh darüber bin. Aber warum du?«
    »Ahnungslose Mel! Weil ich auch hier leben werde.«
    Darauf wäre ich im Leben nicht gekommen.
    Ich konnte mich einer direkten Frage nicht enthalten.
    »Wer hat dir mitgeteilt, daß dein Vater krank war?«
    »Ein Freund. Ich bin aus Kleinasien hierher gekommen. Ich habe mich dort mit Tonscherben befaßt.« Sie war bemerkenswert wenig gebräunt für jemand, der in der Sonne gelebt hatte, aber ihre Haut wurde nicht rasch braun.
    »Es wird schön sein, dich wieder in der Nähe zu haben. Wirklich schön, Sally. Aber was wirst du hier tun?«
    »Was tust du denn?«
    »Ich schreibe ... Ich habe den Eindruck, daß mein Leben auf anderen Gebieten mehr oder weniger vorbei ist.«
    »Ich schreibe auch. Manchmal. Zumindest bin ich Herausgeberin ... Und ich glaube nicht, daß mein Leben, streng genommen, überhaupt schon begonnen hat.«
    Ich hatte selbstmitleidig geredet, obwohl das nicht unbedingt meine Absicht gewesen war. Ich fand es unmöglich, den Tonfall ihrer Antwort einzuschätzen. Ohne Frage, dachte ich mit einem Anflug von Bosheit, sieht sie grotesk jungfräulich aus.
    Eine Woche darauf erschien ein Möbelwagen vor dem Haus von Dr. Tessler, der eine große Anzahl Bücher, ein paar vollgestopfte Koffer und wenig sonst brachte, und Sally zog ein. Sie offerierte mir keine weitere Erklärung für diesen halben Rückzug aus der großen Welt (wir lebten etwa vierzig Meilen von London entfernt, zu weit für eine Beteiligung am urbanen Treiben, zu nah für ländliche Zurückgezogenheit), aber mir kam in den Sinn, daß Sallys Mittel ihr zweifellos nicht gestatteten, eine Gelegenheit zum mietfreien Wohnen auszuschlagen, auch wenn ich nicht wußte, ob das Haus ihr Eigentum war; ein Testament wurde nie erwähnt. Sally war in praktischen Dingen so unpräzise, war es immer gewesen, daß ich mir darüber ein wenig Sorgen machte. Aber sie lehnte fremde Hilfe ab. Zweifellos konnte sie, wenn sie das Haus zum Verkauf anböte, nicht mit einem Erlös rechnen, der ihr erlauben würde, anderswo zu leben; und ich konnte mir vorstellen, daß sie vor dem Ärger und den Unabwägbarkeiten einer Vermietung zurückschreckte.
    Über den Inhalt des Möbelwagens

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