Tesslers Regiment ein dreifaches war: Lesen, Plackerei im Haus und Gehorsam. Ich folgerte, daß letzterer ihm dazu diente, das übrige zu erzwingen. Wenn Sally nicht gerade die Fußböden schrubbte oder den Abwasch besorgte, studierte sie Vergil und Euklid. Schon damals argwöhnte ich, daß die Gewohnheit des Doktors, seinen Willen durchzusetzen, einer Prüfung durch die anderen Eltern nicht standgehalten hätte. Ganz bestimmt jedoch verfügte Sally, als sie in die Schule eintrat, über weit mehr als nur über Grundwissen in fast jedem Unterrichtsfach und dazu in einigen anderen mehr, die gar nicht unterrichtet wurden. Sally stellte daher von Anfang an eine beträchtliche Verunsicherung für die Lehrerinnen dar. Sie lag stets zwei oder mehr Jahre unter dem Durchschnittsalter ihrer Klasse. Sie hatte sich eine regelrechte Technik angeeignet, um Kenntnisse zu erwerben. Sie achtete das Wissen ihrer Lehrer und hatte ein Gespür für dessen Fehlen ... Ich habe einmal herauszufinden versucht, über welches Thema Dr. Tessler promoviert hatte. Es gelang mir nicht, aber natürlich erwartete man damals von einem Deutschen den Doktortitel.
Es war die erste Schule, die Sally besuchte. Ich gehörte der Klasse an, für die sie ursprünglich eingeteilt worden war, in der sie aber nur weniger als eine Woche blieb, so sehr stellte sie mit ihrem gewaltigen Wissensschatz uns übrige in den Schatten. Sie war damals dreizehn Jahre und fünf Monate alt, fast ein Jahr jünger als ich. (Zu meiner Ehre muß ich erwähnen, daß ich am Ende des Schuljahrs versetzt wurde und daher mehr oder weniger mit dem Wunderkind Schritt hielt, wenn auch möglicherweise aus besonderen Gründen.) Ihr Haar war ausgesprochen schön, von hellstem blond und glänzend vom Bürsten, dabei kurzgeschnitten und keineswegs besonders frisiert, meistens sogar sehr unordentlich. Sie hatte dunkle Augen, blasse Haut, eine große, vornehme Nase und einen noch größeren Mund. Ihre Figur war zierlich, aber frühreif, sie erinnerte mich später an Tessa in ›Die treue Nymphe‹. Es gab glücklicher- oder unglücklicherweise keine Schuluniform, und Sally erschien ausnahmslos in einem dunkelblauen Kleid von fremdländischem Aussehen und äußerster Schlichtheit, das nichtsdestoweniger ihr Markenzeichen wurde. Als sie heranwuchs, schien sie Neuausgaben desselben Kleids zu tragen – neu und erweitert, wie bestimmte Publikationen.
Sally war wirklich schön, doch würde man wohl schwerlich eine zweite von solch reizendem Aussehen finden, die dieses Umstands und seiner Tragweite so wenig gewärtig war. Und natürlich trugen ihre Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Erscheinung und ihre einfache Kleidung zu ihrem Charme noch bei. Sie schien von überaus freundlicher und unbekümmerter Wesensart zu sein, ihre Stimme war langsam bis schleppend. Aber dennoch lebte Sally offenbar nur, um zu arbeiten, und obwohl ich vermutlich ihre engste Freundin war (der Drang, mit ihr Schritt zu halten, erklärt großenteils meine eigenen schulischen Fortschritte), fand ich wenig genug über sie heraus. Sie verfügte anscheinend über gar kein Taschengeld. Als dies sich zu einer sozialen Benachteiligung schlimmsten Ausmaßes auswuchs – und da meine Eltern sich Großzügigkeit erlauben konnten und dies auch taten –, teilte ich regelmäßig mit ihr. Sie akzeptierte diese Regelung umstandslos und mit Wärme. Ihrerseits machte sie mir dafür häufige kleine Buchgeschenke: ein Exemplar von Goethes ›Faust‹ im Original mit einem etwas abschreckenden braunen Ledereinband oder eine Petronius-Ausgabe mit einigen bemerkenswerten Zeichnungen ... lange Zeit später, als ich Geld für einen Freund benötigte, trug ich den ›Faust‹ ohne große Hoffnung zu Sotheby’s. Wie sich herausstellte, handelte es sich um eine neugebundene Erstausgabe ...
Aber anläßlich eines Gesprächs über die Illustrationen der Petronius-Ausgabe (für ein Mädchen durchschaute ich das Lateinische verhältnismäßig gut, aber die Kursivschrift und die Länge des Buchstabens ›S‹ schüchterten mich ein) machte ich die Entdeckung, daß Sally über den Gegenstand der Bilder mehr wußte als irgendeiner von uns. Trotz ihrer bestürzenden Bildung hatte sie damals – und sicherlich auch noch danach – anscheinend keinerlei persönliches Interesse daran. Es war, als hielte sie in der feinsten, lieblichsten Weise einen Vortrag über ein entlegenes Thema oder, um eine abgedroschene, an dieser Stelle aber zutreffende Redewendung zu
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