0002 - Das Dorf der versteinerten Monster
Chef.« Zamorra riß dem Mädchen bestürzt die Puppe aus der Hand. Mit schreckgeweiteten Augen starrte er auf das kleine Gesichtchen.
»Tatsächlich!« preßte er völlig verstört hervor. Die Puppe hatte Nicoles Gesichtszüge. Haargenau. Sie sah in jedem Detail so aus wie Nicole. Doch Zamorra konnte jeden heiligen Eid darauf schwören, daß die Puppe vor nicht ganz einer Stunde ebenso haargenau wie er ausgesehen hatte. Er griff sich mit zitternder Hand an die Stirn.
»O Gott!« stöhnte er. »Was kommt da auf uns zu?« Ein schwerer Kühltransporter donnerte die Landstraße entlang. Die Aluminiumaufbauten schimmerten silbrig. Das Fahrzeug fuhr ziemlich schnell, und der Motor verkündete seine Stärke mit dröhnenden Lärm. Nicole hielt die Puppe in ihrer zarten Hand und schaltete mit einemmal geistig vollkommen ab. Ihr Gesicht wurde wächsern. Das Blut wich aus ihren Lippen. Ihr Atem kam stoßweise. Sie war nervös und auf eine unerklärliche Weise furchtbar traurig. Dunkelgraue Schleier legten sich über ihre Augen. Sie nahm nichts mehr um sich herum wahr, wandte sich ohne ein Wort zu sagen um und begann langsam zu gehen. Zamorra und Fleming beachteten diese seltsame Reaktion nicht sofort. Die beiden hatten sich dem Friedhofstor zugewandt, um dieses Bild noch einmal auf sich einwirken zu lassen.
Nicole ging mit staksenden Schritten von ihnen weg. Sie bewegte sich kaum, während sie ging. Ihre Haltung war kerzengerade. Sie hatte den Kopf gehoben, hielt die Puppe fest in ihren Händen und ging geradewegs auf die Landstraße zu. Der Taxifahrer hatte seine Zeitung über das Lenkrad gebreitet und las die Schlagzeilen auf der Sportseite. Das donnernde Herannahen des schweren Kühltransporters lenkte ihn von den Schlagzeilen nach vorn und riß im selben Moment bestürzt die Augen auf. Er war noch niemals mehr erschrocken als in diesem Augenblick. Sein Herz krampfte sich unwillkürlich zusammen.
Der Kühltransporter kam die Landstraße herangesaust. Von rechts kam dieses Mädchen. Ihr Gesicht war kreideweiß. Sie hielt etwas in ihren Händen, schien mit offenen Augen zu träumen, stakte auf die Straße zu und hörte den Transporter nicht. Wenn sie so weiterging, mußte sie unweigerlich unter die Räder des Transporters kommen. Es gab keine andere Möglichkeit. Der Fahrer des Kühlwagens konnte seinen silbrig glänzenden Riesen ganz bestimmt nicht mehr rechtzeitig zum Stillstand bringen. Dazu war der Wagen zu groß und zu schwer. Das ganze Gewicht würde ihn selbst bei blockierten Rädern nach vorn drücken. Das Mädchen war verloren, wenn es nicht stehenblieb. Sie ging weiter. Unaufhaltsam. »Mein Gott! Die will sich das Leben nehmen!« stöhnte der Taxifahrer entsetzt. Er stieß einen krächzenden Warnschrei aus. Nicole hörte ihn nicht. Oder wollte sie ihn nicht hören? Verdammt, dieses junge, hübsche Ding war lebensmüde. Der Kühltransporter kam immer näher. Das Mädchen hatte schon fast die Straße erreicht. Es würde haargenau aufgehen, daß sie vor die Schnauze des mächtigen Wagens geriet. Sie brauchte keinen Schritt schneller zu gehen. Die Haare des Taxifahrers sträubten sich. Er schleuderte die Zeitung weg und hupte wie besessen. Die rostzerfressene, schmutzverkrustete Hupe begann zu husten. Das Mädchen reagierte nicht. Aber Zamorra wandte sich irritiert um. Er begriff die Gefährlichkeit dieser Situation schlagartig. Seine Sekretärin hatte schon fast die Straße erreicht. Der Kühltransporter fegte wie ein Silberblitz auf sie zu. »Nicole!« brüllte der Professor bestürzt. »Bleiben Sie stehen!« Er hetzte los. Nicole hörte ihn nicht, vernahm nicht das heisere Husten der Taxihupe, hörte das gefährlich anschwellende Brüllen des Kühltransporters nicht. Während Zamorra mit angstverzerrtem Gesicht und weiten Sätzen hinter dem Mädchen herlief, brüllte er noch einmal ihren Namen. Sie kümmerte sich nicht um ihn. Ging weiter. Immer weiter. Einfach weiter, als wäre sie allein auf der weiten Welt. Zamorra rannte. Nicole setzte bereits ihren Fuß auf die Fahrbahn. Zamorra stockte der Atem. Er wuchtete nach vorn, streckte die Arme nach den Schultern des Mädchens aus. Seine Hände erwischten Nicole, die Finger krallten sich in ihre Schultern. Er riß sie blitzschnell zurück. Der Fahrer im Kühltransporter schien zu dösen. Er bremste nicht, hupte nicht, tat gar nichts. Donnernd fegte das mächtige Fahrzeug an Nicole und Zamorra vorbei. Sie lagen beide im Straßenstaub und spürten, wie der Boden unter
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