001 - Der Gott aus dem Eis
schmaler Schädel war mit braunem Leder bedeckt. Mit einem dünnen Gurt um die Stirn zusammengebunden, lappte es fransenartig über seine knochigen Schultern.
Sein Oberkörper steckte ebenfalls in Leder, in einer Art Poncho. Auch an den Beinen trug er Leder. Dazu eng anliegende Stiefel, die weit über die Knie reichten und mit Lederriemen zusammen- gebunden waren. In dem Volk, zu dem Sorbans Horde gehörte, trugen alle Göttersprecher Leder.
Bei Aruulas Volk kannte man dieses Material nicht.
»Lausche!« befahl Baloor noch einmal.
Dann legte er die gespreizten Finger an die Schneewand - auch seine Hände waren teilweise mit Leder umwickelt - und presste sein Gesicht wieder gegen das Guckloch.
Der Lichtstrahl erlosch. Die vollkommene Dunkelheit kehrte zurück.
Im hinteren Teil der Höhle wimmerte ein Kind. Zwei, drei andere stimmten ein. Mütter tuschelten. Einer der Krieger knurrte. Die Kinder verstummten.
Aruula beugte sich über ihre Schenkel, steckte den Kopf zwischen die Knie und lauschte.
Sie war die einzige in Sorbans Horde die lauschen konnte. Wahrscheinlich war sie nur deswegen noch am Leben. Und weil sie gut mit Schwert und Bogen umgehen konnte.
Sorban brauchte jeden, der geübt war mit Schwert und Bogen. Und er brauchte einen Lauscher. Soweit Aruula wusste, gab es in keiner anderen Horde der wandernden Völker Lauscher. In ihrem eigenen Volk hatten viele diese Gabe. Doch Aruulas Erinnerung daran war mehr als blass.
Sie schloss die Augen und presste die Hände auf die Ohren. Ihr Herz pochte langsam und ruhig. Sie wiegte ihren Oberkörper sanft hin und her. Aus der Höhle nahm sie das Raunen vieler anderer Geister wahr. Sorbans Horde.
Sie spürte Angst, Zorn und Hunger. Dann ein fiebriges Gestammel. Ganz in ihrer Nähe. Baloor. Blitze zuckten über ihre Netzhäute. Aruula sah Bilder: Schwerter und Pfeile schlugen in pelzige Körper ein, Eisspalten taten sich auf und die pelzigen Körper stürzten hinein. Die Bilder beschleunigten Aruulas Atem und ihren Herzschlag.
Es war Baloors Herz, das sie belauscht hatte. Er rief die Götter an, beschwor Orguudoo, den Dämonen der finsteren Tiefe, und verfluchte die Taratzen. Immer wenn Aruula den Göttersprecher belauschte, griff diese Kälte nach ihr, diese bohrende Spannung.
Aruula riß ihren Geist von ihm los und lauschte zur Höhle hinaus.
Und da war es! Ein Gefühl, als würden sich viele kleine Pfeile unter ihre Kopfhaut bohren. Hass, Gier nach Blut und Fleisch, Angriffslust und -Zerstörungswut. Die Taratzen! Sie waren ganz nah!
Aruula schüttelte sich vor Ekel.
»Sie sind da«, flüsterte sie.
Baloor fuhr herum. Wieder wurde der von Schnee verschlossene Höhleneingang in schummriges Licht getaucht. Aus schmalen Augen musterte der Göttersprecher sie. »Bist du sicher?« Aruula nickte stumm.
An ihr vorbei warf sich Baloor flach auf den Boden. Keuchend murmelte er seine Gebete. »Wudan, komm! Wudan, sei eine Mauer zwischen uns und ihnen! Wudan, sei die Eisspalte, die sie verschlingt. Wudan, Wudan…«
Aruula rutschte ein Stück von dem Mann weg. Sie mochte seine Nähe nicht. Schon seit sie als Kind zu Sorbans Horde gekommen und der Göttersprecher noch .ein junger Mann gewesen war, hatte sie ihn gemieden.
Wieder barg sie den Kopf zwischen den Knien. Da war noch etwas. Nicht in der Höhle. Auch nicht in der Nähe der Höhle bei den Taratzen. Es war weiter weg, viel weiter., Aber es kam rasch näher.
Aruula spürte es tief in ihrem Bauch. Als würde ein Vogel in ihren Eingeweiden herumflattern. Und sie spürte es in ihrem Kopf. Ein leises Summen, das langsam anschwoll.
Etwas Unheimliches passierte da draußen. Etwas näherte sich der Höhle. Etwas, dass sich fremd anfühlte und das sie noch nie erlauscht hatte.
Verwundert richtete Aruula sich auf. Etwas, das sie noch nie erlauscht hatte? An dem betenden Göttersprecher vorbei rutschte sie auf Knien zum Guckloch in der Schneewand. Sie presste ihr Gesicht an den Schnee und spähte hinaus.
Jenseits der Gletscherspalte erhob sich ein steiler, schneebedeckter Bergrücken. Nebel stieg aus der gut fünf Speerlängen breiten Gletscherspalte und kroch den Berghang hinauf. Schroffe Eisformationen ragten stachelartig aus dem Schnee. Der Nebel hüllte sie langsam ein.
Wirkte Baloors Beschwörung schon? Wenn der Nebel sich verdichtete, würden die Taratzen ihr Versteck nicht finden.
Noch konnte Aruula keine Taratzen erkennen. Aber auch nichts, was auf ein anderes Wesen hindeutete. Nirgends eine Spur oder
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