001 - Im Zeichen des Bösen
sicherer. Der ganze Spuk konnte nicht länger als eine halbe Minute gedauert haben. Vom Korridor erklang wieder Anjas verzweifelter Schrei herüber. Dorian stützte sich auf Vukujev und drängte ihn aus der Tür. Sie befanden sich bei dem Turm mit der Wendeltreppe. Dorian sah, wie ein behaartes Bein hinter der Mittelsäule nach oben verschwand, und rannte wankend auf die Wendeltreppe zu.
Vukujev, der diesmal nicht von seiner Seite wich, sagte: »Da ist niemand, Dorian!«
»Doch«, beharrte Dorian. »Hörst du das Mädchen nicht schreien?«
»Es ist nur der Wind«, behauptete Vukujev.
Dorian deutete auf die Turmtreppe. »Anja ist dort oben!«
Er nahm immer zwei Stufen auf einmal. Er wußte, daß er die letzten Kraftreserven aus sich herausholen mußte, um das Mädchen zu retten. Danach konnten sie ausruhen. Die Treppe war plötzlich zu Ende. Er befand sich auf einem Dachboden. Zwischen den Balken spannten sich Spinnweben. Überall lag zentimeterdicker Staub.
Durch die Ritzen pfiff ein eisiger Wind.
»Ich wußte doch, daß da niemand ist«, sagte Vukujev. »Sie haben sich getäuscht, Dorian.«
»Wer ist denn nun von uns beiden verrückt, du oder ich?« herrschte Dorian ihn an, bereute seine Worte jedoch sofort. Aber sie ließen ihn die Wahrheit erkennen. Vukujev war verrückt, deshalb konnten ihn die Dämonen nicht beeinflussen, aber Dorian war ihren magischen Kräften laufend ausgeliefert; selbst wenn Vukujev in seiner Nähe war, konnten sie ihm Trugbilder vorgaukeln. Eines dieser Trugbilder war Anja gewesen. Darum hatte Vukujev sie nicht gesehen. Als wieder ein markerschütternder Schrei ertönte, blieb Dorian ruhig.
»Du hattest recht, Vuk«, sagte er. »Ich habe mich täuschen lassen.«
Vukujev packte ihn am Arm. »Aber da hat jemand geschrien!«
Dorian schüttelte den Kopf.
»Doch, ich habe es deutlich gehört«, beharrte Vukujev. »Das war Anja. Sie ist irgendwo da vorn. Ich muß zu ihr!«
»Bleib hier, du Narr!« schrie Dorian.
Aber Vukujev ließ sich nicht zurückhalten. Staub wirbelte auf, als er über den Dachboden rannte, über Querbalken hinwegsprang, stolperte, sich aufraffte, weiterhastete. Dorian blieb hinter ihm.
Schließlich erreichte Vukujev eine Holztür, die schief in den Angeln hing.
»Nicht öffnen!« schrie Dorian. Er wußte nicht, warum er Vukujev warnte, aber er ahnte Schreckliches.
»Dahinter ist Anja!« rief Vukujev und riß die Tür auf. »Anja!«
Anja preßte die Faust gegen den Mund, um nicht nochmals schreien zu müssen.
»Was hast du, Mädchen?« erkundigte sich Asmodi. Sein Gesicht verschwamm vor ihren Augen. »Ich fürchte, das alles war zuviel für dich. Ich werde dich jetzt Safirna überlassen.«
Anja brachte kein Wort über die Lippen. Sie ließ sich von diesem unheimlichen Mann durch den Saal führen. Vor einem Tisch, an dem drei Männer und eine Frau saßen, blieben sie stehen. »Safirna, darf ich dir meinen Schützling übergeben?« sagte Asmodi zu der Frau. »Sieh dir das arme Ding an! Es ist ganz zerschunden und wundgeschlagen. Gib ihr ihre Schönheit zurück!«
Die Frau erhob sich. Sie hatte einen großen Kopf mit einem grobschlächtigen, faltigen Gesicht, das rosa gepudert war. Ihr gekräuseltes Haar war grellrot, und auf der großen, fleischigen Nase trug sie zwei große Warzen. Sie war noch kleiner als Anja und hatte einen leichten Buckel. »Komm mit, Kindchen!« sagte sie mit schriller, aufdringlicher Stimme und ergriff Anjas Hand.
Anja wehrte sich nicht, als die bucklige Alte sie in den hinteren Teil des Saales führte. In einer Nische stand eine Couch.
»Leg dich hin, Kindchen!« sagte Safirna. Sie zog einen Vorhang vor die Nische und erklärte: »Ich habe es nicht gern, wenn man mir bei der Arbeit über die Schulter sieht.«
Es widerstrebte Anja, sich niederzulegen, aber als die Alte sie sanft auf die Couch hinunter drückte, ließ sie es sich widerstandslos gefallen.
»Runter mit dem Umhang!« Safirna sagte es sanft, aber bestimmt.
Sie nahm Anjas Umhang und warf ihn achtlos fort. Dann bestrich sie Anjas Körper, wobei sie immer mit einem Finger auf die Wunden drückte. »Tut es weh?« fragte sie.
»Nein«, antwortete Anja wahrheitsgetreu. Seltsamerweise verspürte sie keinerlei Schmerz.
»Versuch zu schlafen!«
Anja wollte sagen, daß sie nicht müde und viel zu aufgeregt sei, aber sie brachte die Worte nicht über die Lippen. Sie lauschte Safirna, die eine ihr unbekannte, aber doch irgendwie vertraute Melodie zu summen begann. Die Stimme
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