001 - Vampire unter uns
Renaissance des alten Vampirglaubens aus.
DER VAMPIR VON ELBENBURG war eine höchst schauerliche Sache. Und Martha und mir war am schauerlichsten zumute dabei. Zum Glück blieben wir unbehelligt, da das Sanatorium den Familiennamen des Jungen geheim hielt.
Aber wie lange?
Eine der Zeitungen, Das Eibenburger Wochenendblatt nahm den ›Vampir‹ zum Anlass, eine Eibenburger Mordchronik aufzustellen. Dabei erfuhr die staunende Öffentlichkeit, dass allein in den letzten zwei Jahren im Raum Eibenburg über vierzig Morde begangen worden waren, die nie aufgeklärt wurden, weil die Leichen verschwanden, noch bevor man die Todesursache feststellen konnte. Der Selbstmord einer jungen Frau vor drei Monaten, die sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte, schien im Hinblick auf den ›Vampir‹ plötzlich besonders bedeutungsvoll.
Aber bevor nennenswerte Erkenntnisse über Willie gewonnen werden konnten, verschwand er spurlos aus der Klinik. Das erregte gewaltiges Aufsehen. Man sah noch nie soviel Polizei in Eibenburg. Aber Willie wurde nicht gefunden.
Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte.
Dr. Felbermann besuchte uns oft in den nächsten Tagen. Er schien eine seltsame Verbundenheit mit uns zu fühlen.
Vielleicht, weil er selbst keine Erklärung für das Phänomen Willie fand. Er lehnte die Phantasterei ab, der ich mich immer mehr hingab. Für ihn war die Ähnlichkeit Willies mit dem toten Willie Martin ein Zufall, ein unglaublicher Zufall, aber nicht mehr.
Für mich war es das nicht. Es ging über alle Zufälle.
Natürlich versuchte ich auch immer wieder, eine absurde, aber wenigstens realistische Erklärung zu finden. Doch keine war befriedigend.
Keine hielt einer genauen Überlegung stand. Es gab ein paar nachträgliche Artikel in den Zeitungen, die versuchten, das Phänomen durch Mutationsprozesse zu erklären. Ein französischer Anthropologe sprach sogar von der Geburt eines ›neuen‹ Menschen und von einem ersten Schritt fort von der Abhängigkeit des Menschen von der Funktion seines Körpers.
Er behauptete rundheraus, das Kind steuere seinen Körper mit dem Geist. Und ein englischer Prediger meinte, ein neues Mittelalter wäre im Kommen, und wir sollten uns vor den Geschöpfen unserer eigenen Phantasie in Acht nehmen.
Letzteres berührte mich tiefer, als ich mir selbst eingestand.
Es gab noch eine Theorie, an die ich mich klammerte. Ich diskutierte sie mit Dr. Felbermann.
»Doktor«, sagte ich. »Sie kennen die ganze Geschichte. Sie sind auch bereit, alles andere eher zu akzeptieren, als das tatsächliche Erscheinen Willie Martins. Halten Sie es für möglich, dass – dass über all die Jahre Samenzellen in Martha überlebten und jetzt plötzlich zur Befruchtung führten?«
Er schüttelte entschieden den Kopf.
»Nein, Herr Mertens. Es tut mir leid, dass ich uns diesen Hoffnungsschimmer für eine rationale Erklärung rauben muss.
Aber Samenzellen haben nur eine sehr begrenzte Lebensdauer.«
»Der Fötus vielleicht?« warf ich ein.
»Nein, das ist ganz ausgeschlossen.«
»Ich weiß nicht, Doktor. Ich bin da nicht so sicher«, sagte ich.
»Wenn der Embryo schon dieselben Eigenschaften besessen hat, mochte er nach biologischen Gesetzen scheinbar abgestorben sein. Abgestorben, aber nicht tot, so dass Marthas normale Funktionen nach einiger Zeit wieder begannen.«
Er nickte nachdenklich.
»Sie erinnert sich«, fuhr ich fort, »dass sie einmal glaubte, schwanger zu sein, dass sich das aber nach ein oder zwei Monaten als Irrtum herausstellte.«
»Aber das bedeutet«, meinte er, »das würde bedeuten, dass er nicht mehr an die Versorgungsleitung angeschlossen war. Er wurde vom Mutterkörper nicht mehr gefüttert.«
»Gefüttert?«
Ich lachte freudlos.
»Er braucht keine Nahrung. Er braucht nur Blut. Er lag da drinnen, winzig und geborgen – und satt! Um ihn war eine Welt von Blut, immer frisch produziert. Der perfekte Parasit.
Aber dann kam der unselige Moment, da der normale Wachstumsprozess weiterging. Vielleicht durch eine zweite Befruchtung, einen zweiten Fetus, den er tötete …«
Ich ballte unwillkürlich die Fäuste.
»Und er musste hinaus in die feindliche Welt, in der Blut ein so kostbarer Stoff ist.«
Dr. Felbermann musterte mich stirnrunzelnd. »Sie lassen ja ihrer Phantasie freien Lauf, Mertens!«
»Sie meinen, dass das zu phantastisch ist«, sagte ich.
»Phantastischer als alles andere, das geschehen ist? Phantastischer als ein Kind, das ohne Herz und Blut zu leben
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