001 - Vampire unter uns
Lebendigkeit in den blauen Augen, einer Wachheit, ja fast schien es mir, einer bewussten Intelligenz.
»Ihr Blutdruck ist außergewöhnlich niedrig«, stellte der Arzt fest. »Ich werde Ihnen ein Stärkungsmittel geben. Am besten bleiben Sie heute und morgen liegen. Lassen Sie das Kind keinesfalls an die Brust. Eine Wiederholung des Vorfalles könnte schlimme Folgen haben.«
»Wie ist das zu verstehen, Doktor?« fragte Martha.
Der Arzt zögerte. Dann sagte er: »Sie haben ziemlich viel Blut verloren.«
»Aber da war doch kaum Blut an der Wunde«, warf ich ein.
»Das ist klar«, erwiderte Dr. Felbermann ein wenig verlegen.
Dann dämmerte es mir. »Sie meinen, Willie hat …«
Der Arzt nickte. Martha sah mich erschrocken an.
»Erinnerst du dich, was Frau Bensen sagte?« fragte ich sie.
»Ein kleiner Vampir ist es, den wir da aufziehen.«
»Aber nein«, sagte Dr. Felbermann und lachte, doch es klang nicht ganz echt. »Sehen Sie sich doch die beiden Bissmale an.
Sie liegen ganz nah an der Warze. Wenn das Kind trinkt, muss es automatisch das Blut mitsaugen. Das ist unvermeidlich.«
Willie musterte uns schweigend. Es klang einleuchtend, was Dr. Felbermann sagte. Und dennoch!
Ich hatte Mühe, den Blick abzuwenden. Es fiel schwer, sich von diesen runden, blauen Augen loszureißen. Der Arzt trat an das Bettchen und versuchte, das Kind mit allerlei Späßen zum Lachen zu bewegen, um die Zähne zu sehen. Aber es starrte ihn nur an. Als er resigniert die Arme sinken ließ, verzog sich der kleine Mund zu einem deutlichen Grinsen und entblößte für einen Augenblick die Zähne. So abstoßend war dieser Anblick, dass der Arzt einen Schritt zurückwich. Aber er hatte sich schnell gefasst. Als er sich umwandte, lächelte er.
»Wird ein kräftiger Junge«, sagte er, und ich konnte nicht umhin, dem eine höchst düstere Bedeutung beizumessen.
»Ich sehe morgen noch einmal nach Ihnen«, meinte er zu Martha. »Seien Sie nicht allzu sehr beunruhigt.«
Ich tat die ganze Nacht kein Auge zu.
Auch nicht, als Martha schließlich gegen Morgen in einen unruhigen Schlummer fiel. Willies Augen verfolgten mich.
Selbst wenn ich die meinen schloss, sah ich die seinen lebendig vor mir. Und immer war dieser verborgene Triumph in ihnen.
Drei Tage später.
Dr. Felbermann rief mich aus unserer Wohnung an. Willie sei schwer krank.
Als ich nach Hause kam stand bereits ein Krankenwagen vor der Tür. Sie trugen eben Willie aus der Wohnung. Martha folgte aufgeregt.
»Pet!« rief sie mir entgegen. »Wir müssen nach Eibenburg.
Komm nach, so schnell du kannst!«
»Aber was ist denn los?« fragte ich ein wenig hilflos.
»Wenn es Ihnen recht ist, nehmen wir meinen Wagen«, sagte eine bekannte Stimme hinter mir. Es war Dr. Felbermann.
»Während der Fahrt kann ich Ihnen alles erklären.«
Ich nickte.
Der Krankenwagen fuhr bereits ab, als wir aus dem Haus kamen. Dr. Felbermann führte mich zu seinem Wagen. Er bequemte sich erst zum Sprechen, als wir auf der offenen Landstraße nach Eibenburg waren.
»Es ist wieder die alte Sache«, sagte er. »Blutzerfall.«
»Was meinen Sie damit? Leukämie?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, schlimmer. Es gerinnt in den Adern.«
»Sie meinen wie ein Blutgerinnsel?«
»Nicht nur ein einzelnes Gerinnsel. Der Großteil des Blutes stockt.« Er schüttelte erneut den Kopf. »Es fließt überhaupt nicht mehr in den Adern. Das Kind ist ein Phänomen. Allen biologischen Gesetzen nach müsste es längst tot sein.«
Ich sah ihn verständnislos an.
»Ich habe Willie untersucht, während wir auf den Rettungswagen warteten. Sonst müsste ich denken, ich wäre verrückt. Aber ich bin es nicht. Also muss das Kind so etwas wie ein Wunder sein.«
»Ein Wunder?« wiederholte ich betäubt.
»Sein Herz schlug nicht«, fuhr er fort.
»Die ganzen zehn Minuten schlug sein Herz nicht. Das war logisch, denn es konnte das geronnene Blut nicht durch den Körper pumpen. Das Kind war tot! Tot! Bis auf die Tatsache, dass es schrie und strampelte und mit den Zähnen nach mir schnappte.« Er fuhr an den Straßenrand und hielt an. Fast bittend sah er mich an.
»Sie wissen, dass etwas an dem Kind nicht normal ist. Nicht wahr, Herr Mertens, das wussten Sie vom ersten Augenblick an? Sie und Ihre Frau. Woher sonst dieser Schock? Sagen Sie mir, was Sie wissen.«
»Ich weiß nichts, Herr Doktor«, antwortete ich. »Ich weiß gar nichts.«
»Aber Sie ahnen etwas«, drang er in mich.
»Ich fürchte etwas«, gab ich zu,
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