002 - Das Henkersschwert
Gesicht Bruno Guozzis wuchs vor seinen Augen scheinbar ins Riesenhafte. Dieser Wiedergänger also würde sein Schicksal werden. Er würde ihm das Leben aussaugen und dann seinen Körper fressen, bis nichts als Knochen von ihm übrig blieben. Dorian wollte vor Wut und Entsetzen schreien, aber er brachte keinen Ton über die Lippen.
»Löse den Bann, Coco!« sagte der Mann, der augenscheinlich ihr Vater war, jetzt abermals beschwörend.
»Nein«, sagte Coco. »Ich will nicht, daß dieses Monstrum Dorian in die Hände bekommt.«
Der Schwarzgekleidete trat auf das Mädchen zu. Zwei Schritte vor ihr blieb er stehen. »Du hast mir zu gehorchen!« fuhr er sie an. »Du kannst jetzt nicht plötzlich unseren Plan zerstören. Und du weißt genau, daß Bruno nicht das Leben aus einem Menschen saugen kann, der unter dem Hexenbann steht.«
»Natürlich weiß ich das, Vater«, sagte Coco leise.
»Dann löse den Bann!« schrie sie der Gesichtslose wütend an.
»Du brauchst dich nicht so aufzuführen«, sagte sie. »Ich bleibe bei meinem Entschluß. Ich löse den Bann nicht.«
Der Gesichtslose heulte vor Wut auf. »Ich werde dich bestrafen!«
brüllte er. »Ich stoße dich aus der Familie aus, wenn du nicht gehorchst. Was ist in dich gefahren, Tochter?«
Coco gab keine Antwort.
»Sie ist in Hunter verliebt«, erkannte einer der anderen Männer.
»Stimmt das?« fragte ihr Vater drohend.
»Ja«, erwiderte Coco fast unhörbar.
»Du bist völlig wahnsinnig geworden«, sagte der Mann mit versagender Stimme. »Nimm Vernunft an! Du weißt, was das bedeutet.
Du wirst deine Kräfte verlieren.«
»Es ist meine Entscheidung«, entgegnete sie. »Laßt Dorian frei!«
»Das kommt nicht in Frage«, keuchte der Mann. »Er ist unser größter Feind. Er muß vernichtet werden.«
»Du kannst ihm nichts anhaben, Vater«, sagte das Mädchen.
»Nicht einmal dir gelingt es, den Bann zu lösen.«
Der Gesichtslose sah seine Tochter an. »Ich kann dich nicht zwingen«, sagte er. »Nun gut. Hebt Bruno aus dem Sarg!«
»Was hast du vor?« fragte Coco ängstlich.
Der Mann lachte spöttisch. »Das wirst du schon sehen, ungehorsames Weib!«
Die drei Männer holten Bruno Guozzi aus dem Sarg und legten ihn auf den Boden. »Jetzt packt Hunter«, befahl Cocos Vater. Sie hoben Hunter hoch, trugen ihn zum Sarg, warfen ihn rücksichtslos hinein und breiteten das Tuch über ihn.
»Das kannst du nicht machen, Vater!« sagte Coco entsetzt. »Laß ihn frei!«
»Ich denke nicht daran«, antwortete er. »Er wird lebendig begraben werden. Und dagegen kannst auch du nichts tun. Er wird schnell ersticken. Dann siehst du, daß du mit deiner Aufmüpfigkeit überhaupt nichts erreicht hast.«
Dorian konnte nun nichts mehr sehen. Das Tuch lag auf seinem Gesicht. Die Stimmen schienen aus unendlich weiter Ferne zu kommen.
»Bringt Bruno hinaus!« vernahm er Cocos Vater. Dann wurde es still. Jemand schlug die Tür zu. Dorian war allein. Er lag reglos im Sarg und wartete auf sein Begräbnis.
Er wußte nicht, ob Minuten oder Stunden vergangen waren, als er die Schritte und Stimmen hörte. Das Tuch wurde weggenommen. Er versuchte die Augen zu bewegen, doch sie waren starr und unbeweglich. Den Männern muß doch auffallen, daß ich nicht tot bin und daß vorher ein anderer Mann im Sarg gelegen hat, dachte er, doch die Männer schienen nichts zu bemerken. Sie legten den Deckel auf den Sarg und schraubten ihn fest. Dorian hörte die Geräusche wie aus unendlich weiter Ferne. Eine Schraube nach der anderen wurde angezogen. Dann war es wieder still. Er versuchte sich zu bewegen, doch er hatte keine Kontrolle über seinen Körper. Völlige Dunkelheit umgab ihn. Er konnte nicht beurteilen, wie lange der Luftvorrat im Sarg ausreichen würde, aber sicher nicht sehr lange.
Seine Wut auf Coco wuchs ins Unendliche. Sie hatte ihn in diese Falle gelockt, die seit geraumer Zeit vorbereitet sein mußte. Trotzdem durfte er jetzt nicht die Hoffnung verlieren. Noch war er nicht tot. Vielleicht gab es doch noch eine Chance. Er stellte sich vor, was er mit Coco anstellen würde, sollte es ihm gelingen, aus dem Sarg herauszukommen. Er würde grimmige Rache an ihr nehmen.
Plötzlich begann er sich zu wundern, daß er überhaupt so denken konnte. Stand er vielleicht nicht mehr im Bann der Hexe? War er ihr etwa nur hörig gewesen, so lange sie sich in seiner Nähe befand? Er dachte verzweifelt an Lilian. Was würde ohne ihn wohl aus ihr werden?
Auf einmal wurde der Sarg hochgehoben
Weitere Kostenlose Bücher