002 - Die Angst erwacht im Todesschloss
sich
aufmerksam machen, vielleicht doch noch ...
Mit einem scharfen Ruck riss sie das Kettchen ab und betrachtete es in
ihren zitternden Händen, die vom Mondlicht überflutet waren. An der Kette hing
ein münzgroßes Amulett. Es ließ sich öffnen. Darin lag ihr Bild, eine feine
Arbeit, die Harry selbst gemalt und ihr geschenkt hatte. Zitternd löste sie das
Bild und drückte es mit der Rückseite nach oben wieder in den Rahmen.
Im Mondlicht suchte sie verzweifelt nach einem spitzen Gegenstand, nach
einem verrosteten Nagel, einem morschen Stück Holz, das sie zuspitzen und
benutzen konnte.
Sie brauchte etwas, womit es möglich war zu schreiben ...
Zum Glück fand sie ein spitzes Stück Holz, das sie von einem alten
Besenstiel ablösen konnte.
Wie im Rausch flogen die nächsten Minuten an ihr vorüber. Sie merkte nicht,
dass sie sich heftig in den Finger biss und jeden Blutstropfen, der
hervorquoll, mit ihrem Holzstückchen auffing. Sie suchte nach Worten und
schrieb einen kleinen Vermerk auf die Rückseite des kleinen Bildes.
Einige Sekunden schloss sie die Augen, stand zitternd in der Mitte des
Turmverlieses und versuchte der Erregung Herr zu werden, die von ihr Besitz
ergriffen hatte. Wie in Trance klappte sie schließlich das Amulett zu und warf
das Kettchen mit dem Amulett immer wieder in die Höhe, in der Hoffnung, das
winzige Viereck des Fensters zu treffen. Sie wusste nicht, wohin das Kettchen
fallen würde, sollte es ihr wirklich gelingen, es durch das Fensterquadrat zu
werfen. Sie musste alles dem Schicksal überlassen ...
Und dann schaffte sie es!
Das Kettchen flog durch eines der quadratischen Fenster.
Ellen sah nicht, wie es den Tower hinabfiel und eine Windböe seine Richtung
änderte. Es trieb auf einen kahlen Busch zu, wo es sich im Geäst verfing,
wickelte sich mehrfach um einen Zweig, pendelte wie ein Uhrenperpendikel hin
und her und machte jede Luftbewegung mit.
Ellen fuhr über ihr verschwitztes, verstaubtes Gesicht. Es schien, als sei
plötzlich eine Zentnerlast von ihren Schultern genommen worden.
Dann kam die Müdigkeit über sie. Die Anspannung der letzten Stunden
forderte von ihrem Körper Tribut. Der völlig ausgepumpte Organismus verlor von
einem Augenblick zum anderen jegliche Spannung. Es schien, als ob der jungen
Frau der Boden unter den Füßen weggerissen würde.
Sie fiel über der Truhe zusammen. Der letzte Gedanke, den sie noch fassen
konnte – war das Kettchen. Mit der Nachricht, die sie darin deponiert hatte,
musste sich etwas anfangen lassen ...
Vorausgesetzt, dass es in die richtigen Hände fiel, dass es der Richtige
fand.
So schnell wie möglich. Nicht erst in einigen Wochen oder Monaten, wenn sie
hier längst verhungert und verdurstet war ...
●
Larry Brent lief von einem Ende des Ganges zum anderen. Je öfter er die
Bewegung wiederholte, desto kürzer wurde die Entfernung, wurde der Zwischenraum
zwischen beiden Wänden!
Es knirschte und polterte in allen Ecken.
Ein Bersten erfüllte die Luft, dass Larry glaubte, alle Wände würden
gleichzeitig über ihm zusammenstürzen und ihn unter sich begraben ...
Verzweifelt und kraftvoll stemmte er sich abermals gegen die Wand, um deren
Bewegung aufzuhalten. Doch er wurde mit unbarmherziger Gewalt nach vorn
gedrückt. Zentimeterweise verlor er an Boden, und mit jeder Sekunde, die
wahnsinnig schnell verrann, kamen sich die beiden Wände wie überdimensionale
Mühlsteine näher.
Ein metallisches Knirschen, dann ein heller, peitschenähnlicher Knall, als
eine der Metallklammern aus der Mauerfuge gerissen wurde ... Das Geräusch
erfolgte noch einmal, als eine zweite Klammer heraussprang. Eine dritte,
vollkommen verrostete, wurde einfach auf die Seite gedrückt, umgebogen und
schließlich auch aus der Wand gezerrt, als sich das Gemäuer schon so weit nach
vorn bewegt hatte, dass es jeden Widerstand gewaltsam beiseite drückte. Für den
Bruchteil eines Augenblicks leuchtete es wie ein eigenartiges Licht in Larry
Brents Augen. Seine Muskeln und Sehnen spannten sich. Er sah die Klammern am
Boden liegen, die spitzen, hackenähnlichen Enden. Da schoss ein verzweifelter
Gedanke wie ein Blitz durch sein Gehirn.
Von vorn und hinten schoben die gewaltigen Mühlsteine Mörtelbrocken auf ihn
zu und würden ihn bald zermalmen. Seine Zeit war begrenzt. Links und rechts
standen die unverputzten Backsteinwände; ihr bröckeliger Putz zwischen den
einzelnen Steinen in den Rillen erschien Larry plötzlich wie ein Fanal
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