0022 - Der Todesfluß
dachte nicht mehr an ihren Hunger. Vor allem war sie froh, daß er ihr keine Vorwürfe machte. Denn das schlechte Gewissen quälte sie. Wie hatte sie es nur fertigbringen können, ihn warten zu lassen? Dabei hatte sie sich doch gerade erst vorgenommen, mehr Mitgefühl für den armen alten Mann zu zeigen.
Nicole war fest entschlossen, ihm jetzt keinen Kummer mehr zu machen. Sie startete den Wagen und jagte mit erhöhter Geschwindigkeit los, um den Zeitverlust wieder wettzumachen.
Ihre klaren Gedanken, mit denen sie für einen winzigen Moment die wirkliche Lage erfaßt hatte, waren wie weggewischt – so, als hätten sie niemals existiert.
***
Professor Zamorra setzte seinen Freund bei der Kirche ab und fuhr allein weiter in Richtung Fähre.
Heftige Windböen rüttelten an der Karosserie des schweren Wagens, als dieser durch die tiefen Furchen des Weges rumpelte. Es herrschte noch ausreichendes Tageslicht, doch die Wolken hingen tief und düster über dem Land an der Rhône.
Kurz vor der Uferböschung brachte Zamorra die Limousine zum Stehen, drehte den Zündschlüssel nach links und zog die Handbremse an. Er nahm seine Wetterjacke von der hinteren Sitzbank und stieg aus. Noch während er die Jacke überstreifte, sah er, daß er sich in seiner Vermutung nicht geirrt hatte.
Philippe Manoir stand auf der Fähre. Allein.
Zamorra hatte ihn nach der Versammlung fortgehen sehen. Der Rothaarige hatte es seinen Freunden verweigert, ihn zu begleiten.
Langsam ging Zamorra durch das feuchte Gras der Uferböschung hinunter zum Fluß. Der Wind war unangenehm feucht und kalt.
Kleine Schaumkronen standen auf den Fluten der Rhône.
Manoir bemerkte den Ankömmling erst, als dieser schon die Fähre erreichte. Überrascht drehte sich der Rothaarige um. Er trug eine gefütterte Parka, hatte sich die Kapuze über den Kopf gezogen. Seine Miene drückte deutlichen Unwillen aus, als er Zamorra erkannte.
»Was wollen Sie?« stieß Manoir barsch hervor.
»Mit Ihnen reden«, antwortete der Professor wahrheitsgemäß und ging über die rauhen Planken der Fähre auf ihn zu.
»Ich wüßte nicht, was es zu reden gibt. Wieso mischen Sie sich überhaupt in unsere Angelegenheiten ein?«
Zamorra schüttelte den Kopf.
»Ich denke nicht daran, mich einzumischen, Monsieur Manoir. Einer Ihrer Mitbürger hat mich gerufen und um Rat gebeten. Daß er mit seinen Befürchtungen recht hatte, wurde durch den Tod seines Bruders auf schreckliche Weise bestätigt.«
Philippe Manoir senkte den Kopf.
»Ich weiß«, murmelte er, »der arme Robert kann einem leid tun. Aber vor allem seine Frau und die Kinder. Für die drei wird es das Beste sein, wenn sie Soranges verlassen. Hier würden sie doch nur ständig an das Grauen erinnert werden.«
»Und Sie fürchten sich nicht davor?«
»Sie etwa?« konterte Manoir. »Man sagt, daß Sie Experte für Übersinnliches wären, daß Sie die Mächte der Finsternis zu bekämpfen wissen. Nun, dann müssen Sie doch auch wissen, daß ich nicht auf verlorenem Posten stehe. Ich mache mich jetzt mit der Fähre vertraut, nehme alle Eindrücke in mich auf und weiß dann, wie ich mich auf diese Umgebung einstellen werde. Morgen früh beginnt der Dienst für mich.«
»Glauben Sie, daß Sie mit dieser Methode ausreichend gewappnet sind?« fragte Zamorra mit unverhohlenem Zweifel.
Manoir lächelte überlegen.
»Nun, Ihnen kann ich es ja sagen. Sie als Fachmann werden es mir nicht durch unnötiges Gerede zerstören.« Er nestelte am Reißverschluß seiner Parka und zog ein schweres silbernes Kruzifix hervor, das er an einer feingliedrigen Kette auf der Brust trug. »Das ist meine Waffe, Professor. Und außerdem meine innere Kraft. Sie müssen es beurteilen können.« Er steckte das Kreuz wieder weg. »Ich bin nicht so vermessen wie Robert Levin. Vermutlich war es sein Fehler, die Existenz der Dämonen zu verleugnen. Ich tue das nicht. Ich rechne damit, daß sie mich angreifen werden. Und dafür bin ich gerüstet.«
»Sie sind sehr mutig«, sagte Zamorra anerkennend, »aber ich fürchte, ich muß Ihre Illusionen trotzdem zerstreuen. Sie kennen die Macht der Dämonen vom Fluß noch nicht. Sie wissen nicht, ob ihre vermeintlichen Waffen ausreichen werden. Und außerdem haben Sie keinerlei Erfahrung im Kampf gegen die Mächte der Finsternis.«
»Wollen Sie sich selbst anpreisen?« entgegnete Manoir spöttisch.
»Nein. Ich möchte Sie warnen. Und ich biete Ihnen meine Hilfe an. Das brauchen Sie nicht als Einmischung zu
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