0022 - Der Todesfluß
müssen.
Seit drei Stunden waren sie unterwegs, und der alte Mann aus Soranges hatte bis jetzt höchstens vier oder fünf Worte von sich gegeben. Aus den Augenwinkeln heraus sah Nicole, daß er noch genauso auf dem Beifahrersitz hockte wie bei der Abfahrt – den Blick starr geradeaus gerichtet, die knochigen Hände auf den Knien gefaltet.
Nicole wollte das Autoradio einschalten, um wenigstens etwas Unterhaltung zu haben.
»Lassen Sie das!« befahl der alte Fourcher eisig.
Wie elektrisiert zog Nicole die Hand zurück.
»Entschuldigung«, murmelte sie, verlegen wie ein Schulmädchen, das beim Äpfelstehlen erwischt worden war. Aber warum hatte sie auch nicht daran gedacht? Der Mann aus Soranges war alt, und er hatte eine sehr lange Fahrt hinter sich. Da war es doch mehr als verständlich, daß er seine Ruhe haben wollte. Nicole kam sich plötzlich schlecht vor, weil sie nicht mehr Mitgefühl für den alten Mann zeigte.
»Haben Sie auch Hunger?« fragte sie nach minutenlangem Schweigen.
»Nein.«
»Aber Sie müssen doch… ich meine, nach der langen Fahrt …«
»Nein.«
Nicole blickte ihn verstohlen von der Seite an. Sein Gesichtsausdruck war unverändert maskenhaft. Fühlte er sich womöglich betrogen? Zahlte ihm der Professor nicht genug Geld für den langen Botenweg? Doch Nicole mochte den alten Mann nicht danach fragen, denn es bestand die Gefahr, daß sie ihn dadurch erst recht beleidigte.
Nach geraumer Zeit wagte sie es wieder, ihn anzusprechen.
»Hätten Sie etwas dagegen, Monsieur Fourcher, wenn ich mir etwas zu essen besorge? Auf den Parkplätzen gibt es Imbißbuden. Sind Sie einverstanden, wenn ich bei der nächsten Gelegenheit kurz anhalte?«
»Ja.«
»Soll ich Ihnen dann etwas mitbringen?«
»Nein.«
Achselzuckend gab Nicole es auf. Der alte Mann aus Soranges hatte sich offenbar auf seine schlechte Laune festgelegt und wollte nicht mehr davon abweichen.
Etwa eine Viertelstunde später tauchte ein Hinweisschild am Fahrbahnrand auf. Es kündigte einen Parkplatz mit Kiosken an. Nicole nahm Gas weg, betätigte den Blinker und zog den Wagen dann mit mäßiger Geschwindigkeit auf die Abbiegespur.
Es war einer von den modernen Kiosken – langgestreckt, flach, aus Beton und Glas. Die Parkbuchten für Lastzüge und Personenwagen waren in gepflegten Grünanlagen mit Buschgruppen und Bäumen verteilt.
Nicole stoppte den Citroën auf dem Parkstreifen unmittelbar vor dem Automaten-Imbiß. Weitere Fahrzeuge waren nicht zu sehen.
Erst in ein oder zwei Stunden würde vermutlich das Gedränge der Sonntagnachmittags-Ausflügler einsetzen.
Bevor sie ausstieg, warf Nicole ihrem Mitfahrer noch einen fragenden Blick zu. Doch als der alte Fourcher sich auch diesmal nicht rührte, ging sie mit entschlossenen Schritten auf die Glasfront des Imbißladens zu. Die Eingangstür führte zunächst in einen kahlen, von Neonlicht erhellten Korridor. Links befand sich der Imbißladen, rechts ein Zeitschriftenstand und geradeaus ging es zu den Waschräumen und Toiletten. Nicole beschloß, sich erst einmal frisch zu machen, ehe sie an das leibliche Wohl dachte.
Kurz darauf, als sie den kalten Wasserstrahl im Waschbecken über ihre Hände rinnen ließ, durchzuckte sie eine jähe Erkenntnis.
Erschrocken starrte sie ihr Ebenbild im Spiegel an.
Es war wie das Erwachen aus einem tranceähnlichen Zustand.
Schlagartig wurde ihr der Irrsinn dieser Autofahrt bewußt. Und gleichzeitig erkannte sie, daß der angebliche Bote des Professors ein Schwindler sein mußte.
Nicole suchte nicht lange nach einer Erklärung. Es konnte nur so sein, daß der alte Mann eine Art hypnotische Macht über sie gehabt hatte. Und diesem Machtbereich hatte sie sich jetzt entzogen, ohne daß er es vermutlich gemerkt hatte.
Nicole wußte, daß es am Ende des Kiosks einen Hinterausgang gab. Wenn sie den benutzte, kam sie unbemerkt ins Freie. Dann würde es nicht schwierig sein, ein Telefon zu finden.
Sie nahm sich nicht die Zeit, die Hände abzutrocknen. Sie hastete los, riß die Tür zum Korridor auf.
Im gleichen Atemzug prallte Nicole zurück.
Der alte Fourcher stand vor ihr. Sein Gesicht war steinern. Nur in seinen stumpfen Augen glomm ein winziger Funke von Ärger auf.
»Sie sollten sich beeilen, Mademoiselle«, sagte er, und seine Stimme klang zwischen den kahlen Betonwänden noch hohler als sonst.
»Wir müssen bis zum Abend in Soranges sein. Vergessen Sie das nicht.«
»Ja, ja, natürlich«, antwortete Nicole hastig und folgte ihm.
Sie
Weitere Kostenlose Bücher