0023 - Bei Vollmond kommt das Monster
später gab es ein trockenes Geräusch, einem Rascheln gleich. Damit zerfiel die Masse zu Staub. Was von Mauro übrig blieb, war nicht mehr als ein unscheinbarer Haufen Asche.
Zamorra richtete sich langsam auf. Er starrte auf das Amulett, holte ein Tuch aus der Jackentasche und wischte es ab. Dann steckte er es ein.
»Chef«, sagte Nicole plötzlich.
Zamorra folgte mit den Augen der Richtung, in die ihr Zeigefinger wies. Er presste die Lippen zu einem Strich zusammen. Die Büsche hatten sich bewegt, obwohl der Nachtwind sich gelegt hatte. Zamorra trat auf den Oleander und den Ginster zu, teilte die Sträucher, sah jedoch niemanden.
Plötzlich war ihm, als vernehme er ganz aus der Ferne ein höhnisches Kichern. Er zog das Amulett wieder hervor. Während er es hochhielt, in das Gebüsch hinein, sprach er laut und akzentuiert die Beschwörungsformeln, die er bereits auf die Vernichtung des Monsters verwendet hatte. Erst nach fast fünf Minuten brach er ab, drehte sich um und sah Nicole ernst an. Seine Züge hatten einen bitteren Ausdruck.
Nicole nickte. »Ich verstehe Sie, Chef. Ihre Prognosen sind düster, nicht wahr?«
»Ja.«
Nicole Duval beschäftigte sich seit einiger Zeit mit den parapsychologischen Studien, die ihr Chef anstellte. Seither hatte sich ihre Meinung über Erscheinungen und Vorgänge, die sich jenseits der Bewusstseinsbereiche abspielten, grundlegend geändert. Früher hatte sie nicht an Übersinnliches geglaubt, sondern gedacht, alles mit reiner Logik erklären zu können. Seitdem sie begriffen hatte, dass die Regionen des Denkens weitaus vielschichtiger sein konnten, verstand sie Zamorras Vorstellungswelt in jeder Beziehung und versuchte, ihn bei seinem Kampf gegen die Mächte der Finsternis zu unterstützen.
Zamorra trat neben Sanchini, Silla und Modena. »Ich schlage vor, wir gehen jetzt zu den Stationen vier und fünf und holen das Tonbandgerät aus Mauros Krankenzimmer. Es kann uns wertvolle Aufschlüsse liefern.«
***
Vor dem Verwaltungsgebäude, in dem sich auch die Wohnung von Dottore Aldo Sanchini befand, stießen sie auf den Streifenwagen der »Squadra Volante«, der direkt von der Questura in Lucca herbeordert worden war. Die drei uniformierten Beamten hörten sich gelassen Sanchinis Bericht an. Dass jemand aus einer der Stationen ausgebrochen und bereits wieder gestellt worden war, nahmen sie zufrieden zur Kenntnis. Dass es sich aber um ein Monster gehandelt hatte, das sich mittlerweile in Staub aufgelöst hatte, überhörten sie geflissentlich. Sie baten den Chefarzt bloß, zusammen mit den Zeugen innerhalb der nächsten Tage in die Polizeizentrale zu kommen, um ein Protokoll über den Hergang des Zwischenfalls aufnehmen zu lassen. Damit verließen sie wieder das Gelände der Anstalt Monte Ciano.
»Die glauben auch nicht an den Mummenschanz«, sagte Angelo Silla, als sie gemeinsam ihren Weg fortsetzten, »man kann es ihnen nicht verübeln.«
»Mummenschanz«, wiederholte Sanchini unwillig, »willst du damit sagen, du hast schon wieder vergessen, was wir eben mit eigenen Augen gesehen haben?«
»Keineswegs. Ich meine, nur…«
»… für alles gibt es eine rein sachliche Erklärung«, setzte Zamorra den Satz fort. »Wenn ich an unsere Diskussion zurückdenke, kann ich mir Ihre momentanen Überlegungen recht gut vorstellen, Dottore Silla.«
»Ich bin überzeugt, dass wir die Angelegenheit eines Tages vom medizinischen Standpunkt her deuten können«, entgegnete der blonde Mann beflissen. »Ich bin nicht so wankelmütig wie Aldo, sondern durchaus charakterfest und nicht bereit, von meiner einmal gefassten Überzeugung abzugehen, falls es nicht ernsthafte Gründe dafür gibt.«
»Die Verwandlung Mauros, die Stimme, die aus ihm sprach; sein Ende – sind das keine ernsthaften Gründe, an die Existenz einer okkulten oder mystischen Macht zu glauben?«, hakte Nicole Duval nach.
»Für mich nicht.«
»Wankelmütig – da hört sich doch alles auf«, beschwerte sich Sanchini. »Wer ist denn im Wagen fast durchgedreht, Angelo, du oder ich?«
»Das hat doch nichts mit der wissenschaftlichen Argumentation zu tun«, regte sich der Arzt aus Vigliani auf. »Ich will dir mal was sagen, mein lieber Aldo: Ich finde es verdammt unseriös, sich wegen dieses Monsters gleich völlig umstimmen zu lassen. Schön, ich weiß, dass der Vorfall schockierend war, aber deswegen braucht man doch nicht gleich zum Opportunisten zu werden.«
Sanchini wollte aufbrausen. Aber Modena war es, der die Arme
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