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0023 - Wir faßten in ein Wespennest

0023 - Wir faßten in ein Wespennest

Titel: 0023 - Wir faßten in ein Wespennest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wir faßten in ein Wespennest
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ihr entfernt hinter einer Hecke und beobachteten sie.
    Sie wickelte das Papier weg, das um ihren Blumenstrauß gewunden war. Ein herrlicher Strauß dunkelroter Rosen kam zum Vorschein. Ich besah mir interessiert ihr schmales Gesicht. Sie war außerordentlich hübsch, von blasser Hautfarbe und hatte herrliches kupferbraunes dichtes Haar, das ihr in weichen Wellen bis tief in die Schultern fiel. Ihr kindlicher Mund zuckte krampfhaft, während sie still an dem Grab stand. Leise rannen ihr große Tränen über die hübschen Wangen.
    Plötzlich schwankte sie. Ich sprang vor wie von einer Tarantel gebissen. Im letzten Moment konnte ich sie noch auffangen.
    Ich trug sie in die Kapelle. Dort brannten nur noch zwei kreuzförmig angelegte Neon-Röhren. Ich bettete das Mädchen sachte auf eine der ungepolsterten Holzbänke.
    Wir standen neben ihr und warteten. Ihr Puls ging schwach und unregelmäßig. Sollten wir einen Arzt rufen, oder war es nur ein kleiner Schwächeanfall?
    Sie schlug die Augen auf. Fragend tastete ihr Blick über unsere Gesichter.
    »Keine Angst«, beruhigte ich sie. »Wir sind Freunde von Ben.«
    Da huschte ein schwaches Lächeln um ihr Gesicht.
    Sie erhob sich. Ich half ihr dabei, indem ich ihr den Arm um die zerbrechlichen Schultern legte und den zarten Körper stützte.
    »Du bist wohl zu spät zur Beerdigung gekommen, was?«, fragte ich, damit ich etwas hatte, mit dem ich ein Gespräch beginnen konnte.
    »Nein«, schüttelte sie den Kopf. »Ich habe in der Straße gegenüber vom Friedhof gewartet, bis sie alle gegangen waren.«
    »Warum denn das? Warum bist du nicht gleich herübergekommen?«
    »Bens Eltern haben ihm verboten, sich mit mir zu treffen.«
    »Warum?«
    Sie sah mich so seltsam an, dass ich nicht daraus klug werden konnte. Aber ihre Augen waren auf einmal zweitausend Jahre alt. Die stumme Frage einer ganzen Rasse lag darin. Dann öffnete sie plötzlich ihre vollen Lippen und sagte leise: »Ich bin Jüdin.«
    Wie sie das sagte. So als sei es ihr schon selbstverständlich geworden, dass man als Jude von vielen Menschen schief angesehen würde. Mir stieg etwas in die Kehle. Bens Vater war gewiss kein dummer Mensch, aber in diesem einen Punkt hing er also einem Vorurteil an, das schon so viel Elend über die Menschheit gebracht hat.
    »Und Ben störte sich nicht daran?«
    Sie schüttelte den Kopf. Ihre Augen strahlten stolz, als sie erwiderte: »Ben war der Einzige der mir, half, wenn die ’ ändern Steine nach mir warfen und auf mich schimpften, weil meine Eltern Juden sind. Ben sagte immer, für ihn gäbe es nur Menschen auf der Welt, und im Grund sei es ganz gleich, was sie für eine Hautfarbe oder was für einen Glauben sie hätten. Wenn sie nur gute Menschen wären.«
    Ich sah Phil an. Phil starrte hinüber zu dem Grab. Er sagte leise. »Ich glaube, wir sollten diesem Jungen ein Denkmal setzen, bei uns da drin.«
    Er tippte gegen seine Brust.
    ***
    Das Mädchen hatte über eine Stunde lang im Regen gestanden und auf das Ende der Trauerfeierlichkeiten gewartet. Ihr ganzes Taschengeld war für den Rosenstrauß draufgegangen. Ihre Eltern hatten ihr den Strauß bezahlen wollen, aber sie hatte es abgelehnt. Es war das letzte, was sie von sich selbst ihrem Freund Ben schenken konnte, also sollte es auch ganz von ihr kommen.
    Ich habe bei dieser Geschichte eine Menge gelernt, das können Sie mir glauben. Und mir soll heute nocheiner etwas von den »Halbstarken« erzählen. Beobachtet diese jungen Leute doch auch einmal, wenn sie ihre guten Seiten zeigen, wenn sie uns Erwachsene beschämen. Aber das wollten wir natürlich nicht wahrhaben.
    Ich machte mir Sorge um den Gesundheitszustand des Mädchens. Ihre Kleider waren bis auf die Haut durchnässt, und wenn wir noch lange mit ihr im Regen und in der kühlen Luft blieben, bekam sie unter Garantie eine dicke Erkältung.
    »Komm«, sagte ich. »Wir wollen irgendwo hingehen, wo es etwas Warmes zu trinken gibt, und dort über Ben sprechen.«
    »O ja«, sagte sie freudig. »Es ist das Letzte, was ich für ihn tun kann. Ihnen sagen, was für ein guter Mensch Ben war.«
    Wir verließen den Friedhof wieder. Und wir Esel kümmerten uns nur um das Mädchen. Keinen Blick hatten wir für die Autos, die auf der Straße fuhren.
    Nach einigen Schritten hatten wir eine kleine, aber sehr gemütliche Kneipe entdeckt. Ich half dem Mädchen aus dem Mantel und breitete ihn über die Heizung aus zum Trocknen.
    »Bringen Sie uns drei Grogs, für das Mädchen machen Sie

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