003 - Der Totentanz
sagen, dass Verwandte bei ihm zu Besuch waren. Das hatte er auch getan, um Brigittes Neugier zu befriedigen. Aber konnte er eine solche Lüge auf die Dauer durchhalten? Er konnte sich ungebetene Besucher nicht immer vom Leib halten. Und er musste auch wieder ins Büro zurück, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ihren Lebensunterhalt. Aber er wagte nicht, Christine allein zu lassen. Und nun war Antoine auch noch da.
Mehrmals hatte Christine bereits versucht auszugehen. Vermutlich trieben sie die Erinnerungen von einst dazu, die sie auch dazu brachten, sich zu ernähren, obwohl ihr Körper vielleicht gar keine Nahrung brauchte. Konnte er solche Versuche immer verhindern? Einmal, als er sie noch auf der Treppe zurückgehalten hatte, war der junge Martin gerade nach Hause gekommen und hatte sie gehört. Ob er Christine gesehen hatte? Vermutlich nicht, aber vielleicht bekam er sie das nächste Mal zu Gesicht.
Sollte er alles gestehen? Sollte er versuchen, wieder ein normales Leben zu führen? Konnte er zum Standesamt gehen und erklären, dass seine Frau und sein Sohn, für die er seinerzeit die Totenscheine geholt hatte, aus dem Grab zurückgekehrt waren und wieder bei ihm lebten?
Solche und ähnliche Gedanken beschäftigten ihn, während die lebenden Leichname bei ihm saßen. Jetzt nahm Christine ihren Sohn auf den Schoß. Er lehnte sich an sie, als schliefe er, aber das war nur eine Täuschung. Pierre hatte entdeckt, dass die beiden Zurückgekehrten nicht mehr schliefen. Es schien, als brauchten ihre Körper, die von einer mysteriösen Kraft belebt waren, keinen erquickenden Schlaf mehr. Vielleicht hatten sie auch schon im dunklen Gefängnis ihrer Särge zu lange geschlafen, um jetzt noch Bedürfnis danach zu haben.
Christine ging mit Antoine in das Kinderzimmer hinüber, das so lange leer gestanden hatte. Ihr neu erstandenes Gehirn hatte die Erinnerung an diese Tätigkeit bewahrt, und so kleidete sie Antoine aus und brachte ihn ins Bett. Pierre konnte es in der Küche, wo er sitzen geblieben war, genau hören. Er dachte an den eisigen Kuss, den die starren Lippen der Mutter auf die kalte Stirn des Kindes hauchen würden.
Er dachte: die Frau, das Kind. Es war ihm unmöglich, sie Christine und Antoine zu nennen, weil diese Schattenwesen so gar keine Ähnlichkeit mit den Menschen von einst hatten. Er empfand vor beiden nur Abscheu und Grauen.
Als Christine in die Küche trat, fuhr Pierre zusammen. Sie blieb vor ihm stehen. Ihr Haar war wirr, und ihr stumpfer Blick war auf ihn gerichtet. Christine atmete auch nicht, wie er inzwischen festgestellt hatte. Was war das nur für eine unheimliche Art Leben, das diesem kalten Körper eingeflößt worden war?
Er wusste, dass jetzt das makabre Theater des Zubettgehens kam. Pierre wurde von einem Ekel erfasst, den er wie ein körperliches Unwohlsein in seinen Nerven, seinem Leib und seiner Kehle spürte. Seine Hände begannen zu zittern.
Es hatte keinen Zweck, den Moment hinauszuzögern. Wenn er zu lange ausblieb, kam Christine ihn holen und legte ihre eiskalte Hand, in der kein Blut pulsierte, auf seine Wange. Diese Erfahrung hatte er schon gemacht. Die Tote folgte dem Ritual von einst und nichts konnte ihre automatischen Handlungen aufhalten.
Pierre erhob sich und folgte seiner Frau in das Schlafzimmer. Wie üblich machte Christine kein Licht an. Das war eine der wenigen Veränderungen ihrer routinemäßigen Handlungen. Vielleicht brauchte sie kein Licht, um sehen zu können. Pierre blieb noch einen Moment auf der Schwelle stehen und sah, wie Christine sich nacheinander ihrer Kleidungsstücke entledigte, die sie sorgsam auf einen Stuhl legte.
Dann machte er Licht und zog sich rasch aus. Er streifte seinen Schlafanzug über und legte sich ins Bett. Seine Frau war jetzt nackt. Ihre Haut war ohne Falten, so glatt, dass sie an Plastik erinnerte, und schimmerte matt im Licht. Ihr Körper mit den schlaffen, hängenden Brüsten und dem leicht vorstehenden Leib, den er einst geliebt hatte, erschien ihm jetzt unsagbar abstoßend.
Sie legte sich auf die andere Seite des breiten Doppelbetts. Dann glitt sie näher und schmiegte sich an ihn. Pierre schloss die Augen, als die kalten Lippen seine Wange berührten. Der Modergeruch wurde stärker doch er hatte sich schon etwas daran gewöhnt. Vielleicht würde er auch alles andere ertragen.
Christines kalte Lippen formten jetzt unhörbare Worte. Er wusste, was sie sagen wollte, denn es waren dieselben Worte, die seine Frau zu
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