Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
003 - Der Totentanz

003 - Der Totentanz

Titel: 003 - Der Totentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alphonse Brutsche
Vom Netzwerk:
doch gesehen hatten.
    Klapp … klapp … klapp … ertönten die regelmäßigen Schritte hinter ihm.
    Pierre vergrub das Gesicht in den Händen. Was sollte er nur tun? Er wusste nicht, was er unternehmen konnte, um der unhaltbaren Situation ein Ende zu bereiten. Er konnte Christine auch nicht dazu bringen, in die Erde zurückzukehren. Sie hörte nicht auf ihn.
    Gegen sieben Uhr abends, als auf der Straße das Licht schon brannte und sogar auf dem Platz der Republik etwas Betrieb herrschte, erhob sich Pierre von seinem Stuhl. Der Tag war vergangen, ohne dass er es gemerkt hatte. Jetzt war es Zeit, einkaufen zu gehen. Er war froh über diese kleine Abwechslung. Es würde ihm sicher gut tun, an die frische Luft zu kommen.
    Er zog den Regenmantel an, setzte den Hut auf und nahm eine Einkaufstasche. Aber die beiden Schattenwesen, die mit ihm die Wohnung teilten, stürzten zur gleichen Zeit zur Tür. Christine streckte ihm flehend die mageren Arme entgegen, und Antoine machte es ebenso, fast als seien die beiden lebenden Leichname von ein und demselben Wunsch beseelt.
    »Lasst mich in Ruhe … lasst mich vorbei«, keuchte Pierre und versuchte, sich an ihnen vorbeizudrängen.
    Doch Christine und Antoine waren stärker. Mit unwiderstehlicher Kraft drängten sie ihn zurück. Sie hielten den Blick auf ihn gerichtet, aber ihre toten Augen spiegelten keinerlei Gefühlsregung wieder. Und Pierre stellte fest, dass ein absolutes Nichts furchtbarer ist als alles andere.
    Es gelang ihm schließlich, Antoine auf den Arm zu nehmen und ihn unter Aufbietung aller Kräfte ins Kinderzimmer zu tragen. Dabei bewegten sich Arme und Beine des Jungen wie die eines Insekts, das man am Leib zwischen den Fingerspitzen hält.
    Christine war ihrem Sohn gefolgt, und dadurch war die Wohnungstür freigeworden. Pierre schlüpfte rasch hinaus und zog sie hinter sich zu. Dann lehnte er sich an die Wand und wischte sich den Schweiß von der Stirn, während er darauf wartete, dass sein Herz langsamer zu schlagen begann. Der Drang, die Wohnung zu verlassen, wurde bei Christine immer stärker.
    »Was soll ich nur tun«, stöhnte Pierre. »Was soll ich nur tun?«
    Jetzt hörte er innen an der Tür ein kratzendes Geräusch. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Diese Laute hatte er schon einmal gehört, aber damals war die Lage genau umgekehrt gewesen: Er hatte sich in der Wohnung aufgehalten, und sie hatte draußen gestanden.
    Jetzt setzte Christine ihre Bemühungen fort, wie ein Tier, das seinem Instinkt folgt und sich aus seinem Käfig zu befreien versucht. Pierre hielt es nicht länger aus. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, stürzte er die Treppe hinunter.
    Wie er gehofft hatte, tat ihm die kühle frische Abendluft gut, und der leichte Regen störte ihn nicht. Er ging zum Metzger, ins Lebensmittelgeschäft und schließlich in die Bäckerei der Witwe Cointrin. Während er darauf wartete, dass er an die Reihe kam, in der einen Hand die Einkaufstasche, in der anderen eine Flasche Milch, blickte er zum Schaufenster hinaus auf die Straße. Plötzlich erstarrte er, und die Brust war ihm wie zugeschnürt.
    »Na, was darf´s denn sein?« fragte die Bäckersfrau freundlich.
    Aber er achtete nicht auf sie. Die Milchflasche entfiel seinen zitternden Fingern, und ihr Inhalt ergoss sich auf den Fußboden. Pierre rannte hinaus. Die Tür fiel hinter ihm zu. Er rannte in die Dunkelheit und war gleich darauf verschwunden.
    »Na so was!« meinte die Witwe Cointrin. »Was hat er denn?«
    »Keine Ahnung«, sagte eine Kundin und reckte den Hals, um den Flüchtling zu beobachten. »Der tat ja gerade so, als hätte er ein Gespenst gesehen.«
    »Das ist doch allerhand«, beschwerte sich die Bäckersfrau. »Er hätte sich ja wenigstens entschuldigen können, wenn er mir hier schon eine solche Schweinerei macht.«
    Pierre rannte zehn oder zwanzig Meter so schnell wie noch nie zuvor in seinem Leben. Er hatte geglaubt, in Ohnmacht zu fallen, als er das bleiche Gesicht Christines auf der anderen Straßenseite erblickt hatte. Atemlos blieb er vor der Gestalt stehen, vor diesem Zerrbild einer Frau, die völlig durchnässt im strömenden Regen stand. Der ausdruckslose Blick war auf ihn gerichtet.
    »Christine, bist du denn wahnsinnig geworden?« keuchte er. »Wenn dich jemand sieht!«
    Er blickte sich angstvoll nach allen Seiten um, aber niemand beachtete sie. Auf der anderen Straßenseite sah man das hell erleuchtete Schaufenster der Bäckerei. Die Menschen, die sich darin aufhielten

Weitere Kostenlose Bücher