003 - Der Totentanz
Lebzeiten Abend für Abend an ihn gerichtet hatte:
»Gute Nacht, mein Schatz. Schlaf gut.«
Doch dieser Wunsch hatte jetzt keinen Sinn mehr. Die Worte, die Christines kalter Schatten nicht auszusprechen vermochte, vermittelten nun weder Liebe noch Zärtlichkeit.
In der ersten Nacht, als er noch zwischen ungläubigem Erstaunen, furchtsamer Freude und kaltem Entsetzen hin und her gerissen war, hatte er stundenlang das Wesen an seiner Seite betrachtet, das vorgab zu schlafen. Der Anblick des reglosen Körpers, dessen Brust kein Atemzug hob und senkte, und der offenen Augen, die nichts sahen, hatte ihm klar gemacht, dass das Glück an Christines Seite, wie er es einst erlebt hatte, nun genauso fern lag wie zuvor.
Pierre hatte sich später gefragt, was er getan hätte, wenn Christine von ihm hätte geliebt werden wollen. Doch glücklicherweise blieb ihm diese Prüfung erspart. Schon lange vor Christines Krankheit hatten sie keinen sexuellen Verkehr mehr miteinander gehabt, und daher war die Erinnerung daran in dem lebenden Leichnam anscheinend nicht mit erstanden.
Manchmal dachte Pierre an den schrecklichen Traum, den er gehabt hatte, und der sich jetzt als gerade prophetisch erwies. Doch die Wirklichkeit war noch grauenhafter. Immerhin war er dankbar dafür, dass seine zurückgekehrte Frau sich wenigstens nicht im Zustand der Verwesung befand.
Und nun war auch noch Antoine gekommen. Mit ihm verband Pierre kaum noch etwas. Gewiss hatte er seinen kleinen Sohn zu Lebzeiten zärtlich geliebt, aber er war ihm so früh entrissen worden, und Pierre hatte sich bemüht, nicht mehr an ihn zu denken, um den Kummer über diesen Todesfall zu überwinden.
Wie ein Mühlrad gingen Pierre die Gedanken im Kopf herum. Durch die stillen Straßen heulte der Wind. Pierre wusste, dass er noch lange nicht einschlafen würde. Eine weitere schreckliche Nacht stand ihm bevor.
Wieder rauschte der Regen an die Fensterscheiben. Bisweilen eilte eine nasse Gestalt über den verlassenen Platz und brachte ein wenig Abwechslung in das eintönige Bild. Der einsame Mann, der am Fenster saß und hinausblickte, achtete nicht darauf. Sein Blick war über die Dächer gerichtet, ins trübe Grau des Himmels, der seine Schleusen geöffnet hatte.
Er versuchte, die Schritte nicht zu hören, die pausenlos in der Wohnung hin und hergingen. Seine Nerven litten darunter. Christine und Antoine konnten nicht einen Moment stillsitzen. Sie gingen ohne Unterlass auf und ab, auf und ab, auf und ab … wie wilde Tiere hinter den Gitterstäben eines Käfigs.
Anscheinend war ihr Hirn nicht fähig, sich irgendeiner geistigen Tätigkeit hinzugeben, sei es sich mit einem Spiel zu beschäftigen, zu lesen oder sonst etwas zu tun, was über maschinelle Gesten hinausging. So setzten sie ein Bein vor das andere, bis sie an der gegenüberliegenden Wand des Zimmers angekommen waren. Dann drehten sie sich um und gingen denselben Weg wieder zurück.
Ihrem sinnlosen Umherirren ausgesetzt, glaubte sich Pierre erneut dem Wahnsinn nahe. Christine und Antoine hatten ihre Wanderungen auf sämtliche Zimmer ausgedehnt. Sie gingen vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer, vom Wohnzimmer ins Bügelzimmer, von dort in die Küche, dann wieder ins Schlafzimmer, von dort ins Wohnzimmer und so fort in endlosem, nervenzermürbendem Reigen.
Am Vormittag hatte Pierre versucht, diesem Herumirren ein Ende zu bereiten, aber umsonst. Verstand Christine überhaupt, was er zu ihr sagte? Pierre wusste es nicht. Es war jedenfalls unmöglich, ihr etwas begreiflich zu machen, nicht einmal ganz einfache Dinge. Wenn es Bornimus auch gegeben war, Tote wiederzuerwecken, so war er doch nicht imstande, ihnen ihre volle Vernunft wiederzugeben.
Pierre hatte versucht, Christine in einen Sessel zu drücken und ein aufgeschlagenes Buch vor sie hinzulegen, aber vergeblich. Kaum hatte er sie losgelassen, als seine Frau schon wieder aufstand und mit ihrem schweren, ungelenken Schritt ihre Wanderung fortsetzte.
Pierre musste auch darauf achten, dass sie nicht die Wohnungstür öffnete. Mehrmals hatte er sie zurückhalten müssen, als sie den Riegel zurückschob. Nun hatte er vorsichtshalber zugeschlossen und den Schlüssel an sich genommen. Aber außer der Wohnungstür gab es ja auch noch die Fenster. Christine hatte ihr bleiches Gesicht an die Scheibe gedrückt. Als Brigitte und
Canauff im Hof waren, hatte er Christine mit Gewalt vom Fenster wegziehen müssen. Er wusste nicht, ob seine Besucher sie nicht vielleicht
Weitere Kostenlose Bücher