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003 - Der Totentanz

003 - Der Totentanz

Titel: 003 - Der Totentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alphonse Brutsche
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Haarbüscheln boten darin einen Anblick, den man fast als komisch hätte bezeichnen können, wenn sie nicht so schauerlich gegrinst hätten.
    Der Vormittag verstrich. Es wurde zu Mittag gegessen, doch Pierre nahm an der Mahlzeit nicht teil. Er hatte sich im Badezimmer eingeschlossen, um die vier Mäuler der Toten nicht malmen und schlucken zu hören.
    In der Badewanne waren schwarze Schlammränder zurückgeblieben.
    Am Nachmittag wollte Pierre einen Brief an seinen Chef schreiben. Während die lebenden Leichname unablässig durch die Wohnung wanderten, holte er Papier aus dem Schrank und zog den Kugelschreiber aus der Tasche. Dann begann er: »Sehr geehrter Herr Bontemps …«
    Weiter kam er nicht. Aus den Augenwinkeln beobachtete er die herumirrenden Schattengestalten, und es war ihm unmöglich, sich auf die wenigen Sätze zu konzentrieren, die er zu Papier bringen wollte. Und eigentlich war es ja auch ganz unwichtig.
    Als es Abend wurde, bekamen die Gespenster Lust, auszugehen. Sie versammelten sich an der Tür, kratzten mit den Nägeln über das Holz und schlugen sogar mit den Fäusten dagegen. Es war zwar nicht zu befürchten, dass sie die Tür einschlugen, dazu waren ihre Gesten zu kraftlos, aber sie machten einen Höllenlärm.
    »Hört auf damit! Seid doch still!« schrie Pierre verzweifelt.
    Er hielt sich die Ohren zu, schluchzte vor Verzweiflung und schrie erneut:
    »So gebt doch endlich Ruhe! Hört auf!«
    Aber seine Bitten verhallten unbeachtet. Die dürren Arme schlugen ohne Unterlass an die Tür, die klapperte und in ihren Fugen ächzte.
    Pierre spürte, dass er dem Wahnsinn nahe war. Sein Gehirn schien zu fiebern. Es fehlte nicht mehr viel, nur noch eine Kleinigkeit, um ihn über die Grenze zu treiben, hinter der der Irrsinn lag.
    Diese Kleinigkeit war das Klingeln der Türglocke.
    Bei diesem Laut hatten die lebenden Leichname jäh ihr Hämmern eingestellt. Starr standen sie da. Pierre wusste nicht mehr, was er tat. Er hätte nicht öffnen sollen, doch er trat zur Tür, die Schlüssel in der Hand. Die Toten wichen mit starren Bewegungen vor ihm zurück.
    Pierre steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn zweimal um und öffnete die Tür.
    Draußen wartete das Grauen.
    Einen Moment stand Pierre völlig versteinert dem formlosen Ungeheuer auf seiner Schwelle gegenüber. Das schauerliche Wesen hatte nichts Menschenähnliches an sich, außer dass es sich auf seinen unteren Gliedmaßen aufrecht hielt und zwei Arme und einen Kopf besaß. Doch der Körper war schon vor langer Zeit völlig zerfallen, und das ganze Wesen wirkte eher wie ein abgestorbener Baum, der mit Moos, Schlingpflanzen und Pilzen bewachsen ist, als ein Mensch. Vom Kopf waren nur die Knochen übrig, auf denen anstelle von Haaren pflanzenähnliche Gebilde wuchsen. In den mit Erde gefüllten Augenhöhlen krochen irgendwelche Insekten herum.
    Pierre wurde übel. Er konnte das Ungeheuer nicht länger betrachten. Er konnte nicht noch mehr ertragen. Er beugte sich vor und erbrach sich.
    Immer wieder entleerte sich sein Magen unter schmerzhaften Krämpfen. Pierre war danach so erschöpft, dass er schwankte. Dabei taumelte er auf das Gespenst zu und suchte unwillkürlich an ihm Halt. Seine Finger sanken in eine faulige Masse ein.
    Doch er war schon jenseits allen Schreckens. Der Wahnsinn trieb ihn vorwärts. Er rannte die Treppe hinunter, rannte über die Straße, über den Platz und lief davon.
    Er hatte die Wohnungstür hinter sich offen gelassen. Die lebenden Leichname standen um das Ungeheuer versammelt. Pierre war das egal. Er konnte an nichts anderes mehr denken als zu flüchten, dieser Hölle, zu der sein Heim geworden war, zu entgehen. Dieser neue Schrecken war endgültig zuviel gewesen.
    Er wusste, wer das Ungeheuer war. Es war Cyrille Cussac, jener Großonkel, den er nie gekannt hatte. Die Kraft des Soma hatte auch ihn wiedererweckt, aber sie war nicht mehr stark genug gewesen, um auch ihm einen neuen Körper zu geben. Er war als ein bewegliches Stück Moder dem Sarg entstiegen.
    Wie war es ihm überhaupt gelungen, am hellen Nachmittag in diesem Zustand durch die Stadt zu kommen? Das war unbegreiflich. Aber diese Frage stellte sich Pierre nicht einmal mehr. Er hatte sich schon zu weit von der Welt der Vernunft und Logik entfernt, um nach Erklärungen für die unerklärlichen Ereignisse zu suchen, in die er verwickelt war.
    Manchmal bemerkte er, dass Passanten sich nach ihm umdrehten. Er lief durch die belebten Straßen, die inzwischen

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