003 - Der Totentanz
konnte sich der entsetzlichen Wahrheit nicht länger verschließen. Außerdem ließ der Modergeruch, der wie eine Woge zu ihm drang, keinen Zweifel an der Identität der beiden Ankömmlinge. Der Geruch war unverkennbar. Es war der Geruch von faulender Erde, von modrigem Holz … der Geruch von Friedhöfen, der Geruch des Todes.
Pierres Hand war schwer wie Blei, als er sie hob und dem Lichtschalter näherte. Es wurde hell im Korridor.
Die drei Gestalten wandten sich mit roboterhaften Bewegungen zu ihm um. Drei erloschene Augenpaare blickten ihn an.
Zu beiden Seiten Christines standen zwei furchtbare Gestalten, die zu neuem Leben erwacht waren. Ihre Kleidung bestand nur noch aus verfaulten, vermoderten Fetzen, durch deren Löcher man die ungesunde Haut der wiederhergestellten Körper erkennen konnte. Hier und da war sie mit Erde, Sand und Schmutz bedeckt.
Die beiden Gestalten rührten sich nicht. Obwohl ihre Kleidung halb zerfallen war, konnte man sofort erkennen, dass es sich um einen Mann und eine Frau handelte.
Um einen Mann und eine Frau, die schon länger als zehn Jahre tot waren.
Die teuflische Kraft des Soma hatte auch Caroline und Jean-Paul Ferrier, Christines Eltern, dem Grab entrissen.
Es gelang Pierre nicht, wieder einzuschlafen. Er war in der Ecke der Diele zusammengesunken, als er begriffen hatte, was geschehen war. Er stellte keine Überlegungen mehr an. Sein gepeinigtes Hirn war vom Grauen wie betäubt.
Stunden hatte er so verbracht, in sich zusammengesunken, während die Auferstandenen immer wieder an ihm vorbeigingen und die ganze Wohnung mit Verwesungsgeruch erfüllten. Erde, Schlamm, vermoderte Holzsplitter und Fetzen von ihrer verfaulten Kleidung bezeichneten ihren Weg.
Der höllische Reigen hatte wieder begonnen. Glücklicherweise hatten die Neuhinzugekommenen keine Anstalten gemacht, wieder hinauszugehen. Vielleicht taten sie es wegen der nächtlichen Stunde nicht, oder sie waren erst zu kurze Zeit ihrem kalten Grab entkommen, um schon alle alltäglichen Reflexe neu entwickelt zu haben.
Wenn sie versucht hätten, die Wohnung zu verlassen, hätte Pierre sie nicht zurückgehalten. Es war ihm jetzt alles gleichgültig. Wahrheit und Traumwelt, Vernunft und Unwirklichkeit hatten sich in seinem Hirn bereits völlig vermischt.
Gegen Morgen erwachte er aus seiner Erstarrung und unternahm einen Rundgang durch die Wohnung. Er ging von der Küche ins Schlafzimmer, vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer, vom Wohnzimmer ins Kinderzimmer, vom Kinderzimmer ins Bügelzimmer, so wie die Schattengestalten es machten. Man hätte glauben können, dass er selbst nun auch schon zum Zerrbild eines Menschen geworden war, der ohne Zweck und Ziel umherirrte.
Doch die lebenden Leichname bewahrten in ihrem Unterbewusstsein noch die Erinnerungen an das Leben von einst. Kurz zuvor hatte Pierre einen sehr ungewöhnlichen Anblick erlebt: Caroline und Jean-Paul Ferrier hatten gebadet. Pierre hatte gesehen, wie der Strahl der Dusche die Erd- und Schlammreste von den nackten Körpern gespült hatte, und dabei bemerkt, dass die Soma-Körner nicht vermocht hatten, die Wiedererstandenen, die so viel länger als ihre Tochter tot gewesen waren, mit derselben festen Haut zu überziehen wie Christine und Antoine.
Der Körper von Jean-Paul Ferrier und auch der seiner Frau war mit einer so dünnen Haut überzogen, dass man die Organe und die Knochen hindurch sehen konnte. Die Lippen waren so schlecht wiederhergestellt, dass man darunter genau die Zähne erkennen konnte. Dadurch schienen die beiden Auferstandenen ständig zu grinsen. Die Kopfhaut war nur von wenigen Haarbüscheln bedeckt, und die tief in den Höhlen liegenden Augen sahen wie blutende Wunden aus.
Pierre hatte sich rasch abgewandt, doch er konnte die Erinnerung an diesen grauenvollen Anblick nicht aus seinem Bewusstsein verdrängen. Er hatte ihn ertragen, wie er alles andere ertrug, das ihn bisher gepeinigt hatte. Aber er wusste, dass er nicht mehr lange durchhalten würde.
Im Augenblick richtete sich sein Leben nach dem der lebenden Leichname. So nannte er sie jetzt im Geist. Und etwas anderes waren sie ja auch nicht. Das war nicht mehr seine Frau, und das war auch nicht ihr Sohn, ebenso wenig wie er seine Schwiegereltern vor sich hatte. Es waren Schattenwesen, die sich bewegten.
Christine hatte ihrer Mutter Kleidungsstücke von sich gegeben und ihrem Vater alte Sachen von Pierre. Die beiden Gespenster mit ihrer dünnen Haut und ihren vereinzelten
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