003 - Der Totentanz
schon erleuchtet waren, neben dem Strom der Autos dahin und durch ihn hindurch, und mehrmals wäre er beinahe überfahren worden.
Er rannte, so schnell er konnte, nur von dem einen Wunsch beseelt, von den lebenden Toten so weit wie möglich fortzukommen. Er wusste nicht einmal mehr, wo er war und in welcher Richtung er lief.
Erst als sein überanstrengtes Herz so heftig schlug, dass die Schmerzen in seiner Brust es ihm unmöglich machten, seinen Weg fortzusetzen, lehnte er sich an eine Hauswand. Er sah sich um und stellte fest, dass er sich in der Altstadt befand. Die Straße, in der er stand, war mit Kopfsteinen gepflastert.
Und dann bemerkte er, dass er in der Nähe der Behausung des alten Magiers war.
Pierre bemühte sich, ruhig zu atmen. Die Feststellung, die er soeben gemacht hatte, beruhigte ihn ein wenig. Bornimus! Er war an allen seinen Leiden schuld. Er hatte alle diese Schrecknisse ins Leben gerufen, die ihn quälten. Er hatte ihn mit falschen Versprechen geködert und das Grauen in sein Leben getragen.
Ja, der Alte sollte ihm helfen. Er musste wiedergutmachen, was er verbrochen hatte, das war ja wohl das mindeste, was er verlangen konnte.
Entschlossen stieß sich Pierre Merlin von der Mauer ab und setzte seinen Weg fort. Der Zufall hatte es gut mit ihm gemeint, dass er ihn in diese Gegend geführt hatte. Der Zufall … oder sein Unterbewusstsein, das ihn geleitet hatte.
Pierre hustete. Er hatte nur den Anzug angehabt, als er von zu Hause fortgelaufen war. Da sein Körper jetzt schweißbedeckt war, fühlte er die Kälte des Winterabends doppelt. Doch es machte ihm nichts aus.
Jetzt hatte er die Rue du Bon-Retour erreicht. Er betrat die schmale Gasse und wandte sich nach links, dorthin, wo sich die Tür zur Behausung des alten Magiers befinden musste.
Er konnte sie nicht sehen.
Immer wieder ging er auf beiden Seiten der schmalen Gasse dicht an der Wand entlang und prüfte jeden Meter der grauen Steinwände. Die Tür war verschwunden.
»Bornimus!« rief Pierre verzweifelt. »Jeobald Bornimus, wo sind Sie?«
»Was ist denn das für ein Lärm!« In der zweiten Etage ging ein Fenster auf, und ein Mann beugte sich hinaus.
»Ich … ich suche einen Mann namens Jeobald Bornimus!« rief Pierre hinauf. »Er wohnt hier auf Nr. 3 im Erdgeschoß.«
»Bornimus?« erwiderte der Mann. »Kenne ich nicht. Und die Nr. 3 gibt es in dieser Straße nicht. Schon seit zwanzig Jahren nicht mehr.«
»Aber …« sagte Pierre mit schwacher Stimme, »… ich bin doch hier in der Rue du Bon-Retour?«
»Ja, das schon, aber Nr. 3 gibt es nicht.« Damit machte er geräuschvoll das Fenster zu.
Im Stockwerk darunter war inzwischen eine Frau am Fenster erschienen. Sie war Zeuge des Gespräches geworden.
»Bornimus?« sagte sie. »Nie gehört, den Namen.«
Halb betäubt verließ Pierre die schmale Gasse. Mit gebeugtem Rücken, den mageren Körper ab und zu von heftigem Husten geschüttelt, ging er davon.
Dass er sich nach einer Weile umdrehte, geschah rein zufällig. Er erschrak so sehr, dass er taumelte, als hätte ihm jemand einen Schlag versetzt. Dann wandte er sich um und rannte davon.
Wenige Meter hinter ihm näherten sich langsam die lebenden Leichname.
Es schien ihm, als sei er eine Ewigkeit so dahin gelaufen, doch er war schon viel zu entkräftet, um seine solche Anstrengung noch länger durchhalten zu können. Höchstens eine halbe Stunde lang war er taumelnd dahingehastet, und auch diesmal hatten seine Beine einen unbewussten Auftrag ausgeführt: Sie hatten ihn nach Hause getragen.
Mehrmals hatte er sich bei seiner Flucht umgedreht, und jedes Mal war in einiger Entfernung die Gruppe seiner Verfolger sichtbar gewesen. Es war eine seltsame Jagd. Pierre rannte, so schnell ihn seine Füße trugen, während seine Verfolger mechanisch und unbeholfen ein Bein vor das andere setzten. Dennoch gelang es Pierre nicht, einen Vorsprung zu gewinnen.
Er fragte sich nicht einmal mehr, wie das möglich war. Die Toten hatten gewiss ihre eigenen Gesetze. Er wunderte sich darüber, dass die Passanten keine Notiz von der seltsamen Gruppe nahmen. Christine und Antoine konnten allerdings für normale Menschen gehalten werden, und Jean-Paul und Caroline Ferrier konnten, wenn man nicht genau hinsah, als Menschen erscheinen, deren Gesichter Narben von Verletzungen aufwiesen. Was aber sollten die Leute von dem Ungeheuer denken, das Cyrille Cussac, der Großonkel, jetzt darstellte?
Auf diese Fragen fand Pierre keine Antwort. Er
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