0035 - Draculas Erbe
Bukarest am kommenden Morgen fliege. Um neun Uhr zwölf.
Zamorra sah auf die Uhr. Es war am späten Nachmittag. Sie könnten den Abendzug nach Paris nehmen und in der Hauptstadt übernachten.
»Wie lange brauchen Sie zum Packen, Nicole?«
»Ich? Wieso? Ich kann in einer Stunde fertig sein.«
»So lange brauchen Sie?«, fragte der Professor. »Und ich hätte geglaubt, dass ein Mädchen wie Sie überhaupt keine Zeit dafür braucht.«
»Wie meinen Sie das, Professor?«
»Das meine ich so«, sagte Zamorra. »Ich meine, dass eine hübsche junge Frau als Gepäck nichts anderes nötig hat als ihr Aussehen.«
»Oh, danke«, sagte Nicole. Es war wieder dieses leichte Schnurren in ihrer Stimme. Zamorras freundliches Kompliment war also, auch wenn es nicht das erste war, im Zentrum von Nicoles Gefühlsleben angekommen. Aber sie besann sich ihrer neuen Aufgabe und rauschte hinaus.
Auch Zamorra begab sich in sein Privatzimmer, um schnell seinen Koffer zu packen.
Zu seinem Erstaunen war Nicole schon fertig, als er über die breit geschwungene Treppe wieder in den geräumigen Salon kam.
»Wo lebt dieser Kommissar Petescu?«, fragte Nicole und strich sich zum siebten Mal über den straffen Haarknoten.
»In einer Stadt namens Bistrita, die besser unter dem Namen Bistritz bekannt ist.«
»Und wo liegt das?«
»Ostkarpaten«, sagte Zamorra knapp.
Nicole überlegte. »Dann fliegen wir aber viel zu weit, wenn wir bis Bukarest wollen«, sagte sie dann.
»Ungefähr zweihundertfünfzig Kilometer, zugegeben«, sagte Zamorra. »Aber wir sparen dennoch viel Zeit. Wir könnten zwar bis Budapest fliegen und dann einen Wagen nehmen, aber stellen Sie sich den Zeitverlust vor: eine Fahrt durch ganz Siebenbürgen. Ganz abgesehen von dem Zeitaufwand beim Grenzübergang.«
»Sie haben Recht, Professor«, sagte Nicole. »Aber sagen Sie: diese Stadt Bistritz… liegt sie nicht nördlich der Gebirgsketten von Kelemen und Hargita?«
»Sehr richtig, Nicole«, meinte Zamorra. »Das klingt noch ziemlich zahm, nicht wahr? Aber wenn Sie den rumänischen Namen des Kelemengebirges hören, klingt es schon viel unheimlicher.«
»Und wie ist der Name?«
»Die Rumänen nennen das Gebirge die Muntii Calimanului.«
»Klingt wirklich gespenstisch, Professor«, sagte Nicole. »Aber ist das nicht… das ist doch das Land des …«
»Wieder richtig«, sagte Zamorra zum zweiten Mal. Es amüsierte ihn, dass Nicole den Namen des Unheimlichen nicht aussprechen wollte.
»Richtig«, wiederholte er deshalb. »Es ist das Land des gefürchteten Dracula.«
Nicole schwieg. Dann nahm sie ihren Koffer auf, setzte ihn aber gleich wieder ab.
»Mit Ihrem Wagen, Professor? Oder per Taxi?«
»Rufen Sie ein Taxi, bitte«, sagte Zamorra. »Ich möchte den Wagen nicht tagelang am Bahnhof stehen lassen.«
Zur selben Stunde, als Zamorra mit Nicole in den telefonisch herbestellten Wagen stieg, wünschte sich ein Mann in Bistritz, dass der Professor längst bei ihm sein könnte.
Denn der Unheimliche, wer er auch immer sein mochte, hatte bereits wieder zugeschlagen. Am frühen Abend. Und weit vor der Stadt.
Dort, wo ihn zu dieser Stunde niemand vermuten würde.
***
Das Mädchen Jara war gerade dreiundzwanzig Jahre alt geworden.
Es war ein wunderschönes Mädchen, mit pechschwarzem Haar und zwei Pupillen von der gleichen Farbe, rund und groß wie überreife Süßkirschen. Wer Jara ansah, bekam Appetit auf das Mädchen wie auf diese reifen Früchte.
Jara war freundlich und hilfsbereit. Obwohl sie eine Türkin war, war sie überall beliebt.
Sie stammte aus der alten Familie der Yäntak, die vor mehr als dreihundert Jahren, nach den Kriegswirren von damals, in den Bergen von Transsylvanien geblieben war.
Sie hatten sich angesiedelt, einen bescheidenen Bauernhof aufgebaut und, wie alle anderen hier, versucht, einen kleinen Weinberg anzulegen.
Aber der Hang am Südwesten war nicht sehr fruchtbar. Besser gedieh der Wein an den Südhängen. Aber dort war es seit Vorzeiten das Recht der rumänischen Grafen und Großbauern gewesen, ihren Wein anzubauen.
Jara Yäntak wusste aber, durch ihre Hilfe bei den größeren Weinbauern, manche klingende Münze für die eigene Familie dazuzuverdienen. Und die hölzerne Hucke, die man täglich mit nach Hause nehmen durfte, war eine willkommene Bereicherung für die ganze Familie.
Zwanzig Pfund der feinsten, reifsten Trauben fasste die Hucke.
Zwanzig Pfund große Beeren. Die Hälfte wurde gegessen, aus der anderen Hälfte presste man
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