004 - Der Dämon mit den Totenaugen
beim Nächsten
an, in der eigenen Familie. Wie soll man den Nachbarn verstehen – wenn man den
eigenen Bruder nicht versteht? Wie sollen sich die Völker lieben – wenn die
Familien untereinander streiten? Im Kleinen zeigt sich unsere Unzulänglichkeit.
Und es sind immer auch wieder Einzelne, durch die ganze Gruppen zu leiden
haben. Der, der unverschuldet in Not gerät durch Krankheit, durch einen Unfall
– durch eine Gesetzesübertretung! Ich will keinen Mörder schützen, keinen
Verbrecher, der unseren Kindern nachstellt – unsere Gesetze sind wichtig, und
es gibt eben Außenseiter, die sich der Gesellschaft nicht anpassen. Doch es
gibt auch Fälle, wo die Härte des Gesetzes verfehlt ist, wo sie nachwirkt – für
alle Zukunft, wie ein böses, schleichendes Gift, wo wir nicht vergessen können,
dass dieser oder jener schon einmal mit der Polizei, mit dem Gesetz zu tun
hatte. Eine Strafe ist vorbei – und damit muss derjenige eine neue Chance
bekommen, sonst ist der Sinn der Strafe verfehlt.«
Es war erstaunlich, wie rhetorisch sicher sich der stattliche Inder auf dem
Parkett der Emotionen bewegte. Geschickt wusste er eines mit dem anderen zu
verbinden, und Larry Brent musste gestehen, dass ihn die Art des Inders
faszinierte, dass seine Reden zündeten, dass er wie ein Ertrinkender, ein Verzweifelter
nach dem Recht in dieser Welt suchte – und es doch nirgends zu finden schien.
Larry hörte eine Viertelstunde lang zu.
Er hörte genau zu, entspannte
sich in dieser Zeit und merkte, wie die Belastung der letzten Stunden von ihm
abfiel.
Einmal kam Kambor Shari ganz nahe an ihm vorbei. Die Augen des PSA-Agenten
begegneten denen des Inders. Shari schien durch ihn hindurchzusehen wie ein
Entrückter, wie ein Hypnotisierter ... sein Blick war in eine unfassbare Ferne
gerichtet.
Er ging weiter, predigte, schimpfte, schrie – und bettelte um Verständnis.
Während er sprach und unter der Menschenmenge verschwand, lief ihm der Schweiß
in Strömen über sein braunes, edel geschnittenes Gesicht.
Larry hatte gehört, dass Shari der Sohn eines sehr reichen indischen Kaufmannes
sein sollte.
Die Kleidung, die er manchmal trug, unterstrich dies und zeigte noch etwas
von dem Leben, das er einst geführt hatte, ehe er sich entschloss, eine Art
Einsiedlerleben zu beginnen.
Larry Brent löste sich aus der Menschenmasse.
Der Platz vor dem Zelt war voll; immer mehr waren gekommen, trotz der
Kälte, trotz des Schnees, der lautlos vom nächtlichen Himmel herabwehte.
Da legte sich eine Hand auf seine Schulter, ein Kopf näherte sich seinem
Ohr, und eine leise Stimme wisperte: »Ich muss Sie sprechen, Mr. Brent! Bitte,
folgen Sie mir unauffällig!«
Larry hatte das Gefühl, der Boden würde sich unter ihm auftun.
Er warf nur einen kurzen Blick zur Seite, und seine Augen begegneten dem
Blick zweier dunkelbrauner Augen, die im Schatten unter dem breitkrempigen Hut
lagen.
Der Mann war – Henry Koslowski, der FBI-Agent!
●
David Gallun lebte in einer Appartementwohnung in der Lexington Avenue in
Manhattan.
Der Blinde saß neben dem breiten, zugezogenen Fenster in einem bequemen
Sessel. Gedankenverloren ließ er gestanzte Folien durch die Finger gleiten.
Auch hier in seinem Haus war die Arbeit meistens nicht zu Ende. David Gallun
überprüfte mit ernster Miene die letzten Auswertungen der Computer. Er hatte
die Daten von Ron Silker mit hineingegeben und die Frage so formuliert, dass
die Computerauswertungen ihn und die Dinge um die FBI-Agenten in eine Beziehung
bringen konnten, falls da wirklich ein Zusammenhang bestand. Das Ergebnis
zeigte die Komponente, die er befürchtete, die er aber nicht erwartet hatte. Es
konnte eine Verbindung bestehen!
Silker und die Morde an den FBI-Agenten – eine ungeheuerliche Überlegung.
Was wusste Silker davon? Gehörte er der Verbrecherbande an? Das ganze Interesse
von X-RAY-1 galt dem Gangster, der in manchem schmutzigen Geschäft seine Finger
stecken hatte, der vor einem Mord nicht zurückschreckte und der auch in eine
Spionageangelegenheit verwickelt war, die man bis zum heutigen Tag noch nicht
aufgeklärt hatte. Silker war darin eine Schlüsselfigur. Der Mann passte in das
Schema des Verbrechers, der auf allen Gebieten bewandert war, der als bezahlter
Killer losging oder einen alten Rentner auf offener Straße zusammenschlug und
ihm die Geldbörse entriss. Silker war ein eiskalter, skrupelloser Gauner, der
das Gesetz verachtete und es mit Füßen trat ...
Was in New York
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