0041 - Die Treppe ins Nichts
schließlich, und sein Blick wanderte zwischen dem Professor und Nicole hin und her.
»Nichts«, sagte Zamorra. »Ich habe ihn nur zufällig kennen gelernt. Aber dieser Vincente scheint mir eine sehr ungewöhnliche Persönlichkeit zu sein.«
»Sie drücken sich vorsichtig aus. Er ist verrückt, faltate, verstehen Sie? Er ist nicht ganz richtig im Kopf.«
»Mag sein«, erwiderte Zamorra, »aber Persönlichkeiten, die aus der Norm herausragen, interessieren mich nun mal. Wie lange lebt dieser Vincente schon hier? Hat er einen Zunamen?«
Rigo Velasques dachte nach. »Warten Sie mal.« Er schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen. Seinen Nachnamen kenne ich nicht. Und wer Vincente einmal kennen gelernt hat, geht ihm künftig aus dem Weg. Er ist ein Sonderling. Niemand mag ihn.«
»Und wie lange ist er hier?«
Rigo Velasques starrte auf seine Hände, fächerte die Finger auseinander und begann zu zählen. Dabei murmelte er. »Ich war ungefähr zwanzig. Ich… wurde Chef du Range. Danach muss es etwa fünfzehn Jahre her sein.«
»Und natürlich wissen Sie nicht, woher er kam.«
»Das weiß keiner«, sagte Rigo Velasques. »Vincente hält keinen Kontakt mit der Bevölkerung und die Bevölkerung nicht mit ihm.«
»Aber von irgendetwas muss er doch leben.«
»Ich kann mich nicht entsinnen, ihn jemals mit einer Einkaufstasche in der Hand gesehen zu haben. Weiß der Teufel, wovon Vincente lebt. Es gibt Leute hier, die behaupten allen Ernstes, er würde überhaupt nichts essen. Aber das ist natürlich Unsinn.«
Velasques lächelte schmal und warf einen traurigen Blick zu Nicole hinüber, denn die Konversation hatte einen vollkommen anderen Verlauf genommen, als er sich erhofft hatte. Zu einem kleinen Flirt war er gekommen, und jetzt musste er die Fragen dieses Professors beantworten.
»Vincente ist wirklich kein Thema für eine dermaßen wunderbare Nacht«, sagte er deshalb mit spanischem Charme und himmelte Nicole dabei an.
»Ich glaube auch, dass wir jetzt Schluss machen«, meinte Professor Zamorras Sekretärin. »Haben wir heute nicht schon genug getan? Wir sind die halbe Nacht durchgefahren, und jetzt ist es schon wieder zehn Uhr. Wenn ich es recht bedenke, fühle ich mich schon ziemlich müde.«
»Sie wollen wirklich schon zu Bett?« Bedauern schwang in Velasques Stimme mit.
»Si, Señor, ein Mädchen wie ich braucht seinen Schönheitsschlaf.«
Nicole blinzelte ihm aufmunternd zu, um ihm damit zu bedeuten, dass er wegen ihres Aufbruchs die Hoffnungen noch nicht ganz aufzugeben brauchte.
Nicole handelte dabei ganz in Zamorras Sinn, dem es auch ein Anliegen sein musste, Rigo Velasques als Informanten bei der Stange zu halten.
Auch Zamorra erhob sich. »Sie haben es gehört, Señor Velasques. Mademoiselle ist müde. Nehmen wir noch einen Drink an der Bar zusammen?«
Der Mitbesitzer des Hotels bekam einen Hundeblick. »Ja«, sagte er, »trinken wir, damit der Tag noch ein sinnvolles Ende nimmt.«
Für Professor Zamorra war dieser Tag schon sinnvoll gewesen. Er hatte ein paar weitere Steinchen zu seinem Mosaik gefunden. Sie passten haargenau zum übrigen Bild, das bisher nur in seinen Gedanken existierte.
Fünfzehn Jahre lebte Vincente hier. Niemand wusste, wer er war, niemand wusste, woher er kam. Ein Nest wie Ainsa war ein ideales Versteck für einen Mann, der mit der Öffentlichkeit nichts zu tun haben wollte.
Vor fünfzehn Jahren waren auch die ersten Vermisstenmeldungen eingegangen. Zamorra dachte in dieser Nacht noch lange über den Einarmigen nach. Ein seltsamer Mensch. Aber war er überhaupt ein Mensch?
Zamorra stellte sich diese Frage ernsthaft. Doch der Einarmige würde ihm keine Antwort darauf geben.
Der Professor vom Château de Montagne hatte das Buch im Reisegepäck, das er am Tag vorher in seinem Schloss studiert hatte. Das Buch, in dem auch eine Abhandlung über Jaime y Ronza di Saratoga stand.
Sein Schlaf war trotz des guten Wetters schlecht gewesen. Zamorra wachte schon sehr früh auf. Er setzte sich an den kleinen Tisch im Zimmer und blätterte das Buch durch. Mit Bleistift hatte er einen Namen unterstrichen.
Donna Isabell Conchita di Minestrale.
So hatte die junge Adelige geheißen, welche die Begierde des Inquisitors erweckt hatte. Ihr Gut hatte drüben in der Nähe von Delunqua gelegen. Das Dorf gab es heute nicht mehr. Nur ein paar Ruinen zeugten noch davon, dass einst Leben hier geherrscht hatte.
Auch vom Gut selbst war nichts mehr übrig geblieben. Die
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