0041 - Die Treppe ins Nichts
niemand auf der Terrasse des Hotels auf. Es war die Zeit vor dem Abendessen, und die vertrieb man sich entweder in der Bar bei einem Aperitif oder bei den Pool-Billard-Tischen. Zamorra hörte Kugeln gegeneinander klacken.
Wie erwartet gelang es ihm, auf den Balkon zu seinem Zimmer zu gelangen. Der Rest war ein Kinderspiel. Ein leichter Druck mit der Schulter genügte, und der Haken, der die Jalousietür zugehalten hatte, war aus seiner Halterung gerissen.
Im Zimmer war es wärmer als draußen. Zamorra machte Licht. Im ersten Augenblick sah es so aus, als wäre während seiner Abwesenheit nichts verändert worden, doch dann fiel sein Blick auf den Nachttisch neben dem Bett aus schwarzem Holz.
Das Buch war nicht mehr da. Dabei erinnerte sich Zamorra genau, es dort hingelegt zu haben. Sollte es Nicole sich geholt haben? War es ihr am Nachmittag zu langweilig geworden?
Überhaupt Nicole. Bestimmt hatte sie sich Sorgen seinetwegen gemacht. Über Professor Zamorras Gesicht huschte ein leises Lächeln.
Es erfüllte ihn mit Stolz, dass ein Mädchen wie Nicole sich Sorgen um ihn machte. Er dachte zärtlich an Nicole Duval. Aber jetzt hatte sie schon so lange auf ihn gewartet, da kam es auch auf die paar Minuten nicht mehr an, die er zum Duschen und zum Umziehen brauchte. Bestimmt hatte Rigo Velasques ihr die Zeit so angenehm wie möglich vertrieben.
Noch während er unter der brausenden Dusche stand und das heiße Wasser an seinem Körper herunterdampfte, wurden seine Gedanken von den Erlebnissen des Nachmittags wieder überschattet.
Andererseits machte er sich für den Augenblick keine Sorgen mehr.
Er würde, wie geplant, ruhig die Nacht abwarten und am nächsten Morgen mit einem Trupp von Arbeitern am Standplatz der Weißen Burg zu graben beginnen. So gab der Boden darunter sein Geheimnis am ehesten preis. Schwieriger würde es sein, die armen Opfer wieder zum Leben zu erwecken, wenn es überhaupt noch eine Rettung für sie gab. Der morgige Tag würde es zeigen. Es hatte keinen Zweck, jetzt darüber noch lange nachzugrübeln. Im Augenblick konnte er gar nichts tun.
Schnell kleidete er sich an. Noch einmal fiel sein Blick auf den leeren Nachttisch, den Nachttisch, auf den er das Buch gelegt hatte. Eigentlich brauchte er es nicht mehr. Hatte er Nicole eigentlich einen Schlüssel zu seinem Zimmer gegeben?
Doch, er hatte. Heute früh, beim Frühstück. Er hatte es so eilig gehabt, sich davonzumachen, dass die Zimmerschlüssel auf dem Tisch liegen geblieben waren.
Zamorra hoffte, Nicole an der Bar zu treffen, aber da fand er sie nicht. Er steuerte die Rezeption an. Señor Galvez lief ihm über den Weg, der Mann, den er bis gestern Abend für den alleinigen Besitzer des Hotels gehalten hatte. Señor Galvez war klein, stämmig und in diesem Augenblick höchst aufgeregt. Zamorra trat zur Seite. Sie wären beinahe zusammengerannt. Galvez stammelte eine Entschuldigung, ohne Zamorra richtig angesehen zu haben und hetzte schon weiter. Doch plötzlich blieb er stehen. Kurz vor dem Palisandertresen der Rezeption.
»Professor Zamorra!« Offensichtlich war es jetzt erst bei ihm durchgesickert, mit wem er da beinahe zusammengestoßen wäre.
»Ja«, sagte Zamorra verwundert. Was hätte er auch groß anderes sagen sollen? Der Blick des Hoteldirektors flackerte unruhig.
»Man hat Sie schon gesucht. Wo kommen Sie her? Ich…«
Nun ist es total ungewöhnlich, dass ein Hoteldirektor sich so nach dem Aufenthaltsort eines Gastes erkundigt. Im selben Augenblick schien er das auch bemerkt zu haben, denn sein rundes Gesicht nahm diesen geschäftsmäßig servilen Ausdruck an, den man oft bei Leuten des Dienstleistungsgewerbes findet. »Entschuldigen Sie, Monsieur. Aber ich bin tatsächlich überrascht. Wir hatten alle vermutet, dass…«
Es schien zu seinen Eigenheiten zu gehören, nie einen Satz zu beenden. Oder aber es lag nur an seiner momentanen Aufregung. Und aufgeregt war er. Zamorra hätte nicht erst Psychologie studieren zu brauchen, um das zu erkennen. Galvez war sogar höchst erregt. Sein zweites Kinn zitterte noch mehr als sein erstes.
»Könnten Sie mir nicht der Reihe nach erzählen, was eigentlich passiert ist?«, fragte Zamorra und trat näher. Unbewusst schaute er sich nach Nicole Duval um, aber er sah sie nicht. Konnte sie auch nicht sehen.
»Dann wissen Sie also nicht, was…?«
»Der Reihe nach, bitte!«
Zamorras Stimme konnte ein empfindlicher Seismograph seiner Empfindungen sein. Jetzt hatte sie einen Anflug von
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