0045 - Die Werwölfe von Wien
Mädchens erschütterte mich zutiefst. Deshalb war ich nahe daran durchzudrehen.
Meine Pistolenhand flog hoch. Ich richtete die Beretta dorthin, wo ich den Werwolf vermutete, und drückte ab.
Der Mündungsblitz erhellte für einen Sekundenbruchteil die grausige Szene um mich herum. Und ich entdeckte eine große, kräftige Gestalt, die gebückt vorbeihetzte.
Ich jagte der Horror-Gestalt zwei weitere geweihte Silberkugeln nach und nahm unverzüglich die Verfolgung auf.
Immer wieder stieß ich gegen Hindernisse, die ich nicht sehen konnte. Ich fluchte – man möge mir das verzeihen –, forcierte mein Tempo, überkletterte einen Brunnen, aus dem ein Skelett herausragte, hörte vor mir eine Tür zuklappen und eilte darauf zu.
Augenblicke später fauchte mir der eisige Wind ins schweißnasse Gesicht. Ich stand auf der Zinne der Geisterbahn.
Um mich herum die kalte Dezembernacht. Von hier oben hatte ich einen Überblick über die angrenzenden Buden.
Sie interessierten mich nicht. Mein Interesse galt nur einem: Dem Wolf, der vor wenigen Minuten über das rothaarige Mädchen hergefallen war.
Welche Richtung hatte er eingeschlagen? Ich suchte ihn mit brennenden Augen. Da ich ihn nirgendwo entdecken konnte und auch kein Geräusch mehr von ihm hörte, entschied ich mich für eine von vier möglichen Fluchtrichtungen und hoffte, daß es die richtige war.
Ich kletterte über Holzbalken, Ziegelsockel und riesige Buchstaben, die das Wort GEISTERBAHN bildeten.
Atemlos sprang ich in die Tiefe. Ich federte den Sprung ab.
Der Erdboden schien die Bestie verschluckt zu haben. Ich lief den Weg zwischen den Schaubuden ein Stück entlang, denn ich wollte nicht wahrhaben, daß mir dieses Monster entkommen war.
Ich hoffte, den Werwolf irgendwo wieder zu entdecken. Meine Nerven waren bis zum Zerreißen angespannt. Ich brannte darauf, diesem grausamen Scheusal gegenüberzustehen und ihm die Rechnung für seine Schreckenstaten zu präsentieren.
Doch ich hatte kein Glück in dieser Nacht. Es war mir unmöglich, die Spur des Wolfs wiederzufinden…
***
Der nächste Tag war grau und trostlos. Eine dicke Hochnebeldecke lag über Wien. Aber es war nicht ganz so kalt wie am Vortag. Dadurch schmolz der Schnee weg, der in letzter Zeit gefallen war.
Die Straßen waren naß. Schmutz und Wasser verbanden sich zu einem schmierigen Brei, der sich auf die Windschutzscheiben der Autos legte.
Benno Messmer hatte Karin Stegmann angerufen. Sie hatten ein Rendezvous vereinbart, und nun stand der Junge vor dem Stephansdom, dem weltbekannten Wahrzeichen der Stadt, und wartete auf das Mädchen.
Es kam von der U-Bahn-Station. Karin trug einen schwarzen Dufflecoat und kam lächelnd auf Benno zu. Er ging ihr entgegen.
»Nett, daß Sie gekommen sind, Karin.«
»Geht es Ihnen heute wieder besser?« fragte das Mädchen.
»Besser?«
»Sie hatten doch gestern diesen Schwächeanfall.«
»Der ist längst wieder vorbei. Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse, daß ich Sie so rasch abgeschoben habe.«
»Wenn ich Ihnen böse wäre, wäre ich nicht gekommen.«
»Wollen Sie mir die Innenstadt zeigen?«
»Gern.«
Benno bot ihr seinen Arm an. Sie schob ihre Hand darunter, dann gingen sie Seite an Seite durch die Fußgängerzone. Zuerst führte Karin Stegmann den Jungen aus München zum Graben. Sie zeigte ihm die Pestsäule, die an jene schrecklichen Zeiten gemahnte, wo die Stadt unter der Knechtschaft des schwarzen Todes – wie die Pest genannt wurde – gestöhnt hatte.
Eine Stunde später saßen sie hinter der Oper im Café Sacher, aßen Torte und tranken vorzüglichen Kaffee.
»Haben Sie solche Schwächeanfälle öfter?« wollte Karin wissen.
»Selten«, sagte Benno Messmer ausweichend. »Waren Sie deswegen schon beim Arzt?«
»Kein Arzt kann mir helfen.«
»Das klingt so, als würden Sie kein Vertrauen zu den Ärzten haben.«
»Es gibt Fälle, wo der ärztlichen Weisheit Grenzen gesetzt sind.«
»Halten Sie sich für einen solchen Fall?«
Benno hob die Schultern. »Wir wollen kein Wort mehr darüber verlieren, einverstanden? Krankheiten sind nicht gerade ein erfreuliches Thema.«
Sie schwiegen eine Weile. Karin schaute sich um. Das Lokal vermittelte unaufdringlich ein Flair von Vornehmheit und Eleganz. Hier drinnen lebte noch ein Stück vom alten Wien. An den Tischen saßen zumeist Fremde, die die angenehme Atmosphäre mehr zu schätzen wußten als die Wiener selbst, für die das »Sacher« keine besondere Anziehungskraft ausübte.
»Sind Sie
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