005 - Die Melodie des Todes
aus Ihnen. Erst heute morgen haben Sie sich selbst als ein Nervenwrack bezeichnet …«
»Habe ich das gesagt?« fragte der andre trocken. »Nun, Sie haben es nicht mit diesen Worten gesagt«, erwiderte Leslie mit bekümmerter Miene, »aber es war eine ähnliche Schilderung, die Ihnen offenbar zusagte. Und dann, angesichts eines Unwetters, das mir offen gestanden eine gehörige Angst einjagte, nehmen Sie einfach den Platz Ihres Chauffeurs ein und steuern den Wagen durch das Gewitter. Außerdem haben Sie noch so viel Umsicht, einen alten Mann aufzulesen, obwohl Ihnen niemand den geringsten Vorwurf hätte machen können, wenn Sie ihn seinem Schicksal überlassen hätten.« Gilbert lachte ein wenig bitter.
»Es gibt dutzenderlei Arten von Nervosität«, sagte er, »und diese ist zufällig keine von mir. Der Alte ist ein wichtiger Faktor in meinem Leben, obwohl er es nicht weiß - nichts weniger als das Werkzeug des Schicksals.«
Fast feierlich ließ er seine Stimme sinken. Dann schien ihm einzufallen, daß der andre ihn neugierig ansah.
»Ich weiß nicht, wie Sie zu dem Eindruck gekommen sind, ich sei ein nervöses Wrack«, sagte er kurz. »Das wäre kaum die ideale Verfassung für einen Mann, der sich in dieser Woche verheiraten will.«
»Das ist vielleicht die Ursache, mein lieber Freund«, erwiderte der andre bedächtig. »Ich kenne eine ganze Anzahl von Leuten, die in Anbetracht dieser Aussicht unheimlich aufgeregt waren. Da war zum Beispiel Tuppy Jones, der einfach davongelaufen ist - er hätte sein Gedächtnis Verloren, oder irgend so einen Schwindel haben die Zeitungen behauptet.«
Gilbert lächelte.
»Ich tat etwas, das gleich nach dem Davonlaufen kommt«, entgegnete er ein wenig verstimmt. »Ich habe um Verschiebung der Hochzeit gebeten.«
»Aber warum?« forschte Leslie. »Ich wollte Sie schon heute morgen, als ich Sie abholte, danach fragen, aber dann habe ich es doch vergessen. Frau Cathcart sagte mir, sie wolle nichts davon hören.«
Obgleich Gilbert ihn nicht ermutigte, das Thema weiter zu verfolgen, fuhr der gesprächige junge Mann fort:
»Nimm die Gabe der Götter an, mein Sohn«, sagte er. »Da haben Sie nun eine Stelle im Auswärtigen Amt. Der Posten eines Unterstaatssekretärs steht Ihnen in absehb arer Zeit in Aussicht, dazu eine ganz entzückende und schöne Braut, Sie sind reich …«
»Ich wollte, Sie sagten das nicht«, entgegnete Gilbert scharf. »Das denken alle Leute in London. Außer meinem Gehalt habe ich keinerlei Geldmittel. Dieser Wagen gehört allerdings mir - wenigstens war er ein Geschenk meines Onkels, und ich nehme nicht an, daß er ihn zurückhaben will, bevor ich ihn verkaufe. Gott sei Dank, für Sie macht das keinen Unterschied«, fuhr er immer noch mit dem harten Klang seiner Stimme fort, »aber ich bin nur zu sehr zu der Meinung geneigt, daß zwei Drittel meiner freundschaftlichen Beziehungen und die ganze Liebenswürdigkeit, die mir manchmal zuteil wird, auf dieser Täuschung über meinen Reichtum beruhen. Die Leute glauben, ich sei der Erbe meines Onkels.«
»Aber sind Sie es denn nicht?« fragte der andre voller Staunen.
Gilbert schüttelte den Kopf.
»Mein Onkel hat vor kurzem der Absicht Ausdruck gegeben, sein ganzes Vermögen jener schätzenswerten Anstalt zu hinterlassen, die der Hundewelt so hervorragende Dienste leistet, dem Hundeheim in Battersea.«
Leslie Frankforts gutmütiges Gesicht zeigte einen Ausdruck tragischer Verblüffung.
»Haben Sie das Frau Cathcart gesagt?« fragte er.
»Frau Cathcart?« erwiderte der andre überrascht. »Nein, ich habe ihr nichts davon erzählt. Ich glaube nicht, daß es nötig ist. Schließlich«, sagte er lächelnd, »heiratet mich Edith nicht um des Geldes willen, sie ist selbst recht wohlhabend. Nicht, daß es mir etwas ausmacht«, fuhr er hastig fort, »ob sie reich oder arm ist.« Den Rest der Fahrt legten die beiden Männer schweigend zurück, und an der Ecke der St. James Street setzte Gilbert seinen Freund ab.
Er fuhr zu dem kleinen Haus weiter, das er samt Einrichtung vor einem Jahr gemietet hatte, als ihm Heirat noch als die entlegenste Möglichkeit erschienen war und als seine äußeren Verhältnisse sich noch viel glänzender dargestellt hatten, als sie es gegenwärtig waren.
Gilbert Standerton gehörte zu einer jener sonderbaren Familien, die völlig aus Neffen zu bestehen scheinen.
Sein Onkel, ein wunderlicher alter Anglo-Inder, hatte die Zukunft des Knaben in die Hand genommen; seinem Einfluß hatte
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