0051 - Das Schiff der toten Seelen
Mit einer langsamen Bewegung zog er sie an sich, umfaßte sie – und in der gleichen Sekunde begann seine Gestalt zu verblassen.
Er wurde förmlich aufgesogen.
Für einen Moment schien das durchsichtige Abbild seiner Gestalt den Körper des Mädchens noch wie eine Aura zu umgeben – dann verschwand auch diese gespenstische Projektion. Simones Glieder strafften sich. Ihr blasses, entrücktes Gesicht gewann wieder Leben, der Blick verlor die Starre – und als sie jetzt langsam den Kopf wandte, brannte in ihren Augen ein wildes, dämonisches Licht.
Sie war nicht mehr sie selbst.
Sie war nur noch eine tote Hülle, eine Marionette, die an unsichtbaren Fäden tanzte.
Der Dämon hatte vollends von ihr Besitz ergriffen, hatte sie zu seinem eigenen Körper gemacht – und tief in ihr erwachten Gier und Mordlust wie ein verzehrendes Feuer.
***
Für einen Moment war die Stille dicht und undurchdringlich wie ein körperliches Gewicht.
Ganz langsam hob Zamorra das Schwert des Feuers. Die nadelscharfe Spitze berührte Leonardos Stirn – und in der gleichen Sekunde begann eine jähe Verwandlung.
Die breite Klinge glänzte auf, leuchtete in einem unwirklichen goldenen Licht.
Leonardos Züge erstarrten.
Wie versteinert kniete er am Boden, sein Blick zerfaserte, schien sich zu verlieren in unendlicher Ferne – und doch war da noch etwas anderes als bei den Männern, die Zamorra vorher mit dem magischen Schwert gebannt hatte.
Leonardo verharrte gleich einer Statue.
Aber tief in ihm, tiefer als sein Bewußtsein und tiefer noch als die Abgründe seiner Seele, begann sich etwas zu regen, das das Schwert des Feuers nicht gebannt, sondern erweckt hatte. Ein tiefer Atemzug bewegte Leonardos Brust. Immer noch ging sein Blick ins Leere, wirkten seine Augen ausdruckslos wie Glas – aber auf dem Grund seiner Pupillenschächte glomm ein Licht auf, das seinen leeren Blick auf seltsame Weise erhellte.
Seine Lippen bewegten sich.
Doch es war nicht er, der sprach – es war die dunkle, wohltönende Stimme eines anderen.
»Zamorra?« fragte er leise.
»Alban! Kannst du mich hören?«
»Ich höre dich, Freund«, antwortete der Geäst. »Lange schlief ich, aber das Schwert des Feuers erweckte mich. Ich wußte, daß du stärker sein würdest als jener andere.«
»Noch ist er nicht besiegt! Und er wird nicht vernichtet werden, solange du eins bist mit diesem Körper. Ich kenne das Mittel nicht, Alban!«
Über die erstarrten Züge Leonardo de Montagnes glitt ein geisterhaftes Lächeln.
»Das Schwert des Feuers ist stark«, sagte die Stimme des Geistes.
»Das Schwert ist meine Macht, es schied mich jahrhundertelang von den Ausgeburten der Finsternis, und es wird mich auch scheiden vom Körper eines lebenden Menschen. Nimm das Schwert, mein Freund! Wenn du es vermagst, diesen Körper mit einem einzigen Hieb zu spalten, dann hast du meinen Geist daraus befreit.«
Stille folgte seinen Worten.
Zamorra spürte das jähe Hämmern seines eigenen Herzens, und das Schwert schien plötzlich schwerer in seiner Hand zu liegen.
»Und Leonardo?« fragte er leise.
»Leonardo wird leben. Der Dämon wird zurückkehren müssen in sein Gefängnis und auf immer vernichtet sein. Vertraue mir, Freund…«
Zamorras Stimme klang rauh. »Und wenn ich es nicht schaffe? Nicht mit einem einzigen Hieb?«
»Dann hast du uns beide getötet. Leonardo wird sterben, ich werde der Verdammnis verfallen, und keine Waffe hilft mehr gegen den Dämon, auch nicht das silberne Amulett.«
Zamorra schwieg.
Seine Rechte krampfte sich um den Schwertgriff, wie ein Bleigewicht spürte er die Verantwortung, die in diesen Sekunden allein auf ihm lastete. Leonardo hatte ihm vertraut – durfte er sein Leben riskieren? Und auf der anderen Seite – durfte er Alban, der ihm geholfen hatte, seinem Schicksal überlassen? Der Professor preßte die Zähne aufeinander. Er dachte an den Dämon. An jenes grausame Höllenwesen, das stärker war als das Amulett. Auf ewig würde der böse Geist sein Unwesen treiben, unbesiegbar; dies hier war die einzige und letzte Chance, seiner Herr zu werden – und mit einem tiefen Atemzug traf Zamorra seine Entscheidung.
Er mußte es versuchen.
Ganz gleich, was daraus wurde – er hatte keine Wahl…
Seine Muskeln spannten sich, für eine endlose Sekunde sammelte sich die Kraft seiner Muskeln, seines Willens, seines Geistes zu einer verzweifelten Anstrengung – und ganz langsam hob er das magische Schwert hoch über seinen Kopf und ließ es
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