0051 - Das Schiff der toten Seelen
herabsausen…
***
Mit einem Ruck fuhr der alte Raffael aus seinem unruhigen Schlaf hoch.
Atemlos lauschte er – aber kein Laut drang an sein Ohr. Was hatte ihn geweckt? Eine Ahnung? Die düstere Ausstrahlung des Bösen?
Sein Blick suchte das Kruzifix, das von innen an der Tür hing. Wieder spürte er die Gefahr, mußte gegen den Impuls kämpfen, Château Montagne fluchtartig zu verlassen und so viele Meilen wie möglich zwischen sich und das Schloß zu bringen – aber auch diesmal überwog das Gefühl, daß in Zamorras Abwesenheit wenigstens einer dasein mußte, der aufpaßte, beobachtete, dem Ärgsten wehren oder zumindest später Bericht erstatten konnte.
Raffael wußte, daß er keine Chance gegen ihn hatte – aber er brachte es trotzdem nicht fertig, seinen Platz zu räumen.
Zu lange hatte er den Familiensitz gehütet: Während der vielen Reisen Louis de Montagnes, während der langen Krankheit von Louis’ Vater. Immer waren jene dunklen Mächte dagewesen, hatten als stete leise Bedrohung unter der Oberfläche gelauert – und jetzt, da aus der Drohung wieder einmal Realität geworden war, wollte der alte Diener wenigstens versuchen, ihr entgegenzutreten.
Aus einer dunklen Ahnung heraus hatte er sich völlig angekleidet auf das Bett gelegt – jetzt nahm er nur noch das Kruzifix von der Tür und streifte sich die dünne Schnur über den Kopf. Ob es ihn schützen würde, ob es nur Tand war für den Unheimlichen, der draußen sein Unwesen trieb – Raffael wußte es nicht. Seine Finger zitterten leicht, als er die Klinke niederdrückte, aber er öffnete ohne Zögern die Tür und trat über die Schwelle.
Ein langer Flur führte von der ehemaligen Kemenate ins Haupthaus.
Die Halle lag im Mondlicht – Raffael runzelte die Stirn, denn er war sicher, daß er alle Vorhänge geschlossen hatte. Langsam stieg er über die breiten Steinstufen, hinauf in die Ahnengalerie, in der er fast hellsichtig den Ursprung des unheimlichen Einflusses vermutete – und auch hier schimmerte fahles Mondlicht, obwohl es überhaupt kein Fenster gab, durch das es hätte eindringen können.
Fünf Schritte – dann machte der Gang eine Biegung.
Raffael ging weiter, vorbei an den Porträts Chalderons, Teilharts, Montagos. Für einen Moment haftete sein Blick an dem schönen, ein wenig fremdartigen Antlitz Anais de Montagnes – und als er den Kopf wandte, blieb er stehen, als sei er gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen.
Alles hatte er erwartet – aber nicht das…
Nicht ein attraktives junges Mädchen in Jeans, T-Shirt und flotter Lederjacke!
Sie stand mitten im Flur, ganz selbstverständlich. Glattes blondes Haar fiel ihr auf die Schultern, das Gesicht war dezent zurechtgemacht, ihr Lippenstift zeigte die neueste Modefarbe. Sie paßte zwar nicht in diese Umgebung, doch sie sah so vollkommen normal aus, glich so sehr den anderen Mädchen ihres Alters, denen man auf Schritt und Tritt begegnete, daß sich die furchtsame Spannung des alten Dieners für einen Moment in fassungsloser Verblüffung auflöste.
Daß die Mädchengestalt das Zentrum des eigentümlichen Lichtes bildete, das den Gang erhellte, bemerkte er erst mit Verzögerung.
Sein Herz machte einen schmerzhaften Sprung.
Unwillkürlich tastete er mit der Rechten nach dem Kruzifix an seiner Brust – und im gleichen Moment verzerrte sich das Gesicht des Mädchens zu einem niederträchtigen, ungemein bösen Lächeln.
Ihre Hände hoben sich.
Wie Krallen krümmten sich die Finger mit den lackierten Nägeln, ein leises Fauchen kam tief aus ihre Kehle. Geduckt machte sie einen Schritt nach vorn, einen zweiten, einen dritten. Ihre Augen brannten in einem wilden, verzehrenden Feuer, die Lippen zogen sich von den Zähnen zurück – und voller Entsetzen erkannte Raffael, daß es die spitzen, nadelscharfen Zähne eines Raubtiers waren.
Der alte Diener wich zurück.
Angst würgte ihn. Schweiß brach aus seinen Poren, sein Herz hämmerte. Mit einem Ruck riß er sich das Kruzifix vom Hals, hielt es dem unheimlichen Wesen in der ausgestreckten Hand entgegen – aber das besessene, willenlose Werkzeug des Dämons kicherte nur.
Die Augen glühten auf.
Flammen schienen aus ihnen hervorzubrechen – gleißende Strahlen, die Raffaels Haut versengten und ihn wie Stromstöße trafen. Er blieb stehen, ohne es zu wollen, ohne es auch nur zu wissen. Immer näher kam die Bestie. Eiskalter Schrecken durchzuckte das Opfer, als ihm bewußt wurde, daß es sich nicht mehr zu rühren
Weitere Kostenlose Bücher