0053 - Eine Frau, ein Mörder und ich
Bruder nehmen — kannst du beschwören, Sarah, daß die Folgen dieser Rücksicht nicht in einer neuen Leiche bestehen? Kannst du beschwören, daß ich nicht heute schon wieder in eine Toreinfahrt gerufen werde, in der die ermordete Mutter dreier Kinder liegt? Was soll ich den Kindern dann erzählen? Daß dieser Mord vielleicht nicht hätte passieren zu brauchen? Daß ich aber Rücksicht auf ein privates Verwandtschaftsverhältnis nehmen wollte?«
Sie sah mich starr an. Man sah ihrem gespannten Gesicht an, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. Plötzlich schrillte das Telefon.
Unwillkürlich blickten wir beide in die Richtung.
Marry Sunfort befand sich näher am Telefon als wir. Sie nahm den Hörer ab. Nach wenigen Sekunden schon sagte sie: »Für Sie, Mr. Cotton. Sie werden aus dem Stadthaus verlangt.«
Das konnte nur Phil sein. Er allein wußte, daß ich bei Sarah war. Und er befand sich ja im Stadthaus. Ich ging zum Telefon, das auf einem kleinen Schreibtisch von weißer Farbe und metallener Platte stand und nahm den Hörer.
»Cotton.«
»Phil. Hör zu, Jerry…!«
Ich hörte zu. Mit zusammengepreßten Lippen. Und mit einer sich immer steigernden Wut. Ich hörte deutlich, was Phil sagte, aber ich hörte gleichzeitig immer wieder dieses verdammte Wort »Rücksicht«…
Ich stellte ein paar Zwischenfragen. Phil beantwortete sie. Knapp, klar und präzise. Ich legte den Hörer auf.
Sarah sah mich an.
Marry Sunfort sah mich an.
»Gestern war in dem Nachtlokal Sunny Day eine Messerstecherei«, sagte ich. »Es ging um Morphium. Ich bat zwei Polizeibeamte der Stadtpolizei, drei in diese Geschichte verwickelte Männer mit ihrem Streifenwagen zum FBI zu bringen, damit ich sie dort verhören könnte. Die beiden Polizeibeamten werden seit der Zeit mitsamt ihrem Streifenwagen vermißt. Jetzt hat man sie gefunden. Der Wagen steht in einem leeren Schuppen in der 96. Straße. Die beiden Beamten heißen Robert Henderson und Gay Lucius Brown. Robert Henderson ist tot. Von einem dolchähnlichen Messer erstochen. Brown liegt auf dem Vordersitz. Er ist bei Bewußtsein. Der Dolch steckt in seinem Rücken. Der hinzugezogene Arzt sieht keine Möglichkeit, Brown in ein Krankenhaus bringen zu lassen. Die Dolchspitze muß nach seiner Ansicht genau auf dem Herzen sitzen, vielleicht sogar schon ein paar Millimeter in den Herzmuskel eingedrungen sein. Kein Mensch weiß, wie lange Brown es noch machen wird. Man weiß nur eines: Daß er sterben wird und wir nichts, aber auch gar nichts dagegen tun können. Sechs Polizisten und ein G-man stehen in dieser Sekunde neben einem Kameraden, um hilflos seinem qualvollen Sterben zuzusehen. Haben wir genug Rücksicht genommen?«
Ich hatte ganz leise gesprochen. Nach dem letzten Wort griff ich schon nach meinem Hut. Da hielt mich Sarah plötzlich mit einer Bewegung zurück.
Ich blieb stehen.
Sie verschwand im Wohnzimmer. Nach ein paar Minuten war sie wieder zurück. In der Hand hielt sie ein postkartengroßes Foto.
Sie gab es mir. Ich blickte darauf.
Ein junger Mann, lachend und fröhlich, in Großaufnahme.
Ich hatte ihn anders gesehen: niedergeschlagen und nicht lachend.
Er war einer der drei, die von den beiden Cops zum FBI gebracht werden sollten. Einer der drei Männer, die die Streifenwagenbesatzung auf ihrem Gewissen hatten.
»Das ist mein Bruder«, sagte Sarah leise.
***
Ich schaltete die Sirene in meinem Jaguar ein. Wie ein Raubtier hetzte ich den Wagen durch die Straßen.
Ich hatte freie Fahrbahn. Die Polizeisirene zwang alles an die Seite. Und ich ließ dem Wagen freien Lauf. Ein Jaguar fängt ohnehin erst bei neunzig Meilen an, ein Auto zu sein.
Trotzdem dauerte es eine ganze Weile, bis ich die 96. Straße erreicht hatte. Ich milderte das Tempo und fuhr sie entlang. Etwa in der Mitte sah ich am Straßenrand drei Wagen geparkt: Einen Streifenwagen von irgendeinem Polizeirevier — ich glaube, es war das 26. Revier —, einen Streifenwagen vom Hautquartier der Stadtpolizei und einen neutralen Wagen der Stadtpolizei, den ich nur am Nummernschild als Wagen der City Police erkennen konnte.
Es mußte irgendwo in der Nähe der abgestellte Wagen sein. Ich sah mich um und entdeckte einen Cop, der zwischen den Wagen auf einem Kotflügel hockte.
Ich stellte den Jaguar neben die drei Fahrzeuge und stieg aus. Der Cop kam schnell heran.
»Sind Sie Mr. Cotton vom FBI?«
»Ja. Warum?«
»Der Captain hat gesagt, ich soll Sie führen.«
»Gut, gehen wir.«
Es ging in eine breite
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