006 - Ende eines Quellherren
dunklen Augen Shans. »Nur der kann überleben, der sich Shan voll und ganz ergeben hat. Hätten wir ohne den Verlust des Brunnens bemerkt, dass Gotan die überlieferten Sitten derart missachtet? Niemals! So soll nicht ihm unser Mitleid gelten, sondern seinen Clansmitgliedern, deren Schicksal entschieden werden muss, wie die alten Gebräuche es verlangen.«
»Glaube nur ja nicht«, fiel Mishan ein, »ich würde tatenlos zusehen, wie du dir die drei Mädchen zuteilst!«
Tritar erhob sich. »Wollt ihr alles unter euch allein aufteilen?«, rief er. »Hier sind noch andere Quellherren, die ihre Ansprüche anmelden wollen!«
»Recht hat er!«, fiel eine zögernde Stimme ein.
»Genau!«, rief eine zweite. »Tremish und Mishan stehen nicht allein im Ganglion!«
Tremish riss das Wort wieder an sich. »Quellherren!«, übertönte seine Stimme den Lärm der aufgebrachten Ratsherren, »habt ihr all unsere Gesetze vergessen? Zuerst wird geduldet, dass ein Namenloser das Wort an uns richtet; niemand hat genug Mut, ihn für dieses Sakrileg zu bestrafen, wie die Gebräuche es verlangen, erst Glaukol musste einen Schuldspruch fällen. Dann verliert der Rat seine Einigkeit! Es wird nicht mehr verhandelt, die Ratsherren streiten und schreien durcheinander wie kleine Kinder, die sich um ein Spielzeug balgen. Seid ihr euch der Würde eures Amtes nicht mehr bewusst?« Wieder schwieg er für einen Moment, um dann die Hand auszustrecken und mit dem Zeigefinger die Reihen der Quellherren abzufahren.
»Und wer ist Schuld an diesem unwürdigen Tumult?«
Die Ratsherren verstummten; wie gebannt starrten sie auf Tremishs Finger.
Die Hand verharrte vor Tritar.
»Jener Quellherr dort«, erhob Tremish die Stimme, »der genau weiß, wie schlecht es um seine Ländereien bestellt ist. Will er uns gegeneinander aufbringen, um selbst den größten Vorteil aus Gotans Scheitern zu erwirken? Ist er der Meinung, nur so seine Quelle und sein Amt vor dem Untergang bewahren zu können?«
Tritar sprang auf. »Was willst du damit sagen?«, rief er.
Tremish lächelte, doch seine Augen blieben kalt. »Genau das, was ich damit gesagt habe.«
Tritar fühlte, wie er vor Zorn und Erregung zu zittern anfing. »Noch bin ich Quellherr«, sagte er, hielt aber abrupt inne, als er bemerkte, zu welchem Fehler er sich hatte hinreißen lassen.
»Noch«, wiederholte Tremish höhnisch. »Du bist dir also bewusst, wie schlimm es um deinen Brunnen bestellt ist? Wartest du nicht tagtäglich darauf, dass die Erntemaschinen verkünden, dein Quellgras nicht mehr bewässern zu können?«
Tritar wandte sich um und durchschritt die Sitzreihen der Ratsmitglieder. Er glaubte, ihre Blicke so heiß wie den Schein der Sonne, wenn sie am höchsten stand, auf seinem Rücken spüren zu können.
Bebend vor Zorn wandte er sich an der metallenen Tür um. »Vielleicht«, sagte er, »hat der Namenlose, der einst Quellherr war, mehr Recht über uns alle gesprochen, als ihm in seiner geistigen Verwirrung bewusst sein konnte.« Mit diesen Worten schloss er die Tür hinter sich.
Erleichtert atmete er auf, den Aasvögeln entkommen zu sein. Mochten sie solange streiten, wie sie wollten; Tremishs Forderungen waren zwar unerhört, aber der Quellherr besaß genug Einfluss im Rat – sei es durch Bestechung, durch Vergünstigungen, die er anderen Mitgliedern zukommen ließ, oder durch einmal erhaltene Treueversprechen, die es jetzt einzulösen galt – um sie zum größten Teil auch durchzusetzen.
Noch immer am ganzen Körper zitternd, lehnte er sich an die Brüstung des schmalen Stegs, der zum Ganglion führte. Tief unter ihm wurde der Boden von Schatten verdunkelt, die die mächtige Felsnase warf, die das Ganglion überragte.
Obwohl bald der Abend hereinbrechen würde, war es hier draußen noch immer heiß. Tritar öffnete den oberen Verschluss seiner Ratskutte und wischte sich den Schweiß von Stirn und Nacken. Hatte ihn die Ratsversammlung so erhitzt oder schwitzte er, weil die Tage immer länger und heißer wurden?
Er blickte hinaus über die Höhlenstadt, deren Turmbauten nur zum Teil dem Zahn der Zeit getrotzt hatten; die meisten waren zwar erhalten geblieben, aber einige lagen auch in Schutt und Asche da. Wurde eine Clanfamilie aufgelöst, blieben die alten Wohnräume zumeist leer. Die Quellherren, die die zerfallenden Familienverbände aufnahmen, bauten lieber ihre eigenen Stammsitze aus; so gab es in der Höhlenstadt ganze Stockwerke und Häuser, in denen man kaum einem Menschen
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