006 - Ende eines Quellherren
nicht auf den ersten Blick erkennbaren Lautsprecher erklang ein mechanisches Schnarren.
Und dann sprach das Kunstgeschöpf … zwar stockend, in kurzen, abgehackten und auch unvollständigen Sätzen, aber durchaus verständlich.
»Haben Gespräch abgehört«, vermeldete er mit seiner Kunststimme. »Sprachmuster unbekannt. Nicht enthalten in Katalog. Wortschatz gering. Brauchen Informationen. Bitte weiterhin sprechen. Zwecks Wortschatzvergrößerung.«
Tanya warf Ken einen fragenden Blick zu. »Was …?«
»Bitte sprechen«, forderte der Roboter sie erneut auf.
»Was wird hier gespielt?«, fragte die Survival-Expertin. »Wo sind die Herren der Station? Wir wollen mit deinen Herren sprechen.«
»Station ohne Herren«, gab der Roboter zurück. »Programmierung eindeutig. Anlage aktiviert, um Programm folgen zu können. Alle Vorbereitungen getroffen. Programm wird eingeleitet.«
»Was für ein Programm?«, fragte Ken.
»Informationen später. Programm nur durchführbar mit ausreichenden Sprachinformationen. Sprachkenntnisse noch ungenügend. Bitte sprechen. Unterschiedliche Worte benutzen. Datenmenge noch unzureichend.«
»Verdammt«, rief Tanya, »sage uns endlich, was hier vor sich geht!«
»Bitte sprechen!«, war die lapidare Antwort des Roboters.
»Du bist zwar stur«, sagte Ken, »aber nicht so stur wie dieser Blechkumpel. Es gibt nichts stureres als eine Maschine, die ihrer Programmierung folgt. Tun wir ihm den Gefallen. Vielleicht erfahren wir dann am schnellsten, was uns hier erwartet?«
»Sollen wir etwa Hänschen klein singen?«, fuhr Tanya ihn an.
»Warum nicht? Oder wir sagen ihm ein Gedicht auf. Hast du nicht mal Die Glocke auswendig lernen müssen?«
»Die Glocke nicht, aber ich kann ihm ›Blowing in the Wind‹ vorsingen.«
»Nur zu«, sagte Ken grinsend.
»Bist du noch bei Sinnen?«
»Gut«, unterbrach der Roboter ihren Dialog. »Bitte weiter sprechen. Sprechen.«
»Warum lassen sich seine Herren nicht blicken? Warum schicken sie diesen Blechkumpel vor?«
»Wenigstens unterhält er sich mit uns. Das ist doch immerhin besser, als würde er uns vorführen, wie effektiv er seine Waffen einsetzen kann.«
»Aber wie bringen wir ihm bei, dass wir irgendwann einmal essen und trinken müssen? Und dass unsere fünf Kollegen vielleicht Hilfe brauchen?«
»Ernährungsversorgung in Programm enthalten«, warf der Roboter ein. »Die Station sorgt für das leibliche Wohl ihrer Gäste.«
»Seine Grammatik bessert sich zusehends«, versetzte Tanya wütend.
»Bald beherrscht er sogar das Plusquam perfekt«, entgegnete Ken spöttisch.
Ihre Witzeleien schienen in der Tat dazu beizutragen, den Wortschatz des Roboters – oder des ihn steuernden Elektronengehirns – rapide zu vergrößern.
»Sprachinformationen nun auf absolutem Minimum«, gab das Metallgeschöpf bekannt. »Programmierung kann schrittweise befolgt werden. Weitere Gespräche zwecks Informationsvergrößerung erbeten.«
»Nur allzu gern, du Blechkumpel!«
»Bezeichnung unzutreffend«, erwiderte der Roboter.
»Humor hat er auch noch!«, sagte Tanya mit einem spöttischen Seitenblick zu Ken.
»Programmschritte eingeleitet. Betrachtet euch als unsere Gäste. Sobald die nötigen Sprachdaten vorliegen, kann die Vorführung beginnen.«
»Was für eine Vorführung?«, fragte Ken.
»Willkommen auf Shan«, überging der Roboter die Frage. »Sie werden sich aus erster Hand überzeugen können, welche Folgen die Verletzung der Gebote haben wird. Sie sind unsere Gäste. Fühlen Sie sich auf Shan wie zu Hause. Ihre Versorgung obliegt der Station. Bitte melden Sie sich, sollten Sie Wünsche haben.«
»Wünsche?«, fragte Tanya.
»Sie sind unsere Gäste. Der Aufenthalt auf Shan ist kostenfrei.«
»Verdammt noch mal«, platzte Tanya der Kragen, »wo sind wir hier?«
»Das hörst du doch«, erwiderte Ken. »Auf Shan. Und ob du es glaubst oder nicht, mich interessiert, was dieser Roboter uns vorzuführen hat.«
»Mich auch«, gab Tanya zu. »Brennend sogar.«
»Dann sehen wir uns doch an«, sagte Ken, »was er uns zu bieten hat. Kostenfrei. Ein Geschenk. Wo gibt es heutzutage so etwas noch?«
Doch ein altes Sprichwort wollte ihm nicht aus dem Sinn gehen: Fürchtet die Danaer – auch wenn sie Geschenke bringen.
Und Ken fragte sich unwillkürlich, ob dieser Roboter schon einmal von einem Trojanischen Pferd gehört hatte.
ENDE
Stadt der Illusionen
von Carsten Meurer
Der Computer auf ›Vetusta‹ hat Ken Randall,
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