0061 - Kino des Schreckens
verlor sie den Kontakt mit dem Boden. Shao fiel hin. Durch den Schwung konnte sie ihre Hand aus dem Blütenkelch ziehen. Als sie ihre Finger anschaute, bemerkte sie, daß sie aus zahlreichen winzigen Wunden bluteten. Shao hatte jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie mußte zusehen, daß sie sich aus der Gewalt der Pflanze befreite, was gar nicht so einfach war.
Dieses fleischfressende Ungetüm hatte eine hundsgemeine Kraft. Sie zog Shao immer näher zu sich herum, und ihre zahlreichen Blütenkelche öffneten sich wie die Rachen von Ungeheuern, um Shao zu verschlingen.
Die Chinesin bekam Angst.
Sie schrie, doch es war niemand da, der ihr helfen konnte. Sie mußte sich selbst befreien.
Die Hände hatte sie frei.
Und Shao kämpfte.
Sie packte die tentakelähnlichen Gebilde, die ihre Beine umschlungen hielten. Sie versuchte, sie zu zerreißen.
Die Dinger aber waren wie Gummi.
Shao hätte eine Schere dabeihaben müssen, um sie zu zerschneiden.
Aber wer geht schon mit einer Schere ins Kino?
Shaos Chancen sanken immer mehr.
Die Pflanze würde ihr Opfer bekommen. Mit Entsetzen sah die Chinesin einen dritten Arm, der sich vom Strauch her löste und auf sie zukroch. Er näherte sich ihrem Oberkörper, um ihn mitsamt Armen zu umschlingen.
Shaos Hilfeschreie hallten über den Sumpf, doch es hörte sie niemand. Die Chinesin war allein.
Auch der dritte Arm erreichte sie. Er klatschte auf ihren Oberkörper und ringelte sich fest.
Jetzt war Shao endgültig gefangen. Diese Tentakel waren fest wie Fesseln. Es war ihr zwar gelungen, den rechten Arm aus der Umklammerung fernzuhalten, aber der linke klemmte fest.
Immer näher rutschte Shao der gefährlichen Pflanze. Mit der freien Hand versuchte sie, sich im Boden einzustemmen.
Vergebens.
Die Pflanze war nicht zu besiegen.
Shao, die Chinesin, näherte sich Zoll für Zoll einem schrecklichen Ende…
***
Zum Vorführraum führte eine schmale Wendeltreppe hoch. Das Holz knirschte unter unseren Schuhen, als wir emporstiegen.
»Kannst du solch ein Ding überhaupt bedienen?« fragte mich Suko.
Ich winkte ab. »Eine meiner leichtesten Übungen, Freund.«
Suko schüttelte den Kopf. »Ehrlich, John, kannst du damit umgehen?«
Wir blieben vor der Eisentür zum Vorführraum stehen. »Versucht habe ich es noch nicht«, antwortete ich, »aber ein Bekannter hat ein Heimkino…«
Suko winkte ab und zog die Tür auf.
Das Odeon war noch ein Kino aus der Gründerzeit. Und ähnlich präsentierte sich auch die Technik. Das Vorführgerät war ein alter Kasten.
Ich schaute mich um und machte ein bedenkliches Gesicht. »Wahrscheinlich müssen wir den abgelaufenen Film zurückspulen«, sagte ich zu Suko.
Der Chinese besah sich den Apparat. Es war ein Mordsgerät und stand auf einer speziell angefertigten Konsole. Die Öffnungsschlitze, durch die der Film dann auf die Leinwand fiel, befanden sich etwa in Sukos Augenhöhe.
Ich fand den Schalter, der die Rolle zurücktransportierte. Im nächsten Augenblick begannen sich die Spulen zu drehen, und der Film wirbelte zurück.
Er lief sehr schnell, trotzdem dauerte es seine Zeit, bis er umgespult war.
Ich hielt den Film an.
»Alles klar?« fragte Suko.
»Ja.«
»Dann drücken wir uns die Daumen.«
Meine Zeit als Filmvorführer begann. Es klappte sogar gut, denn ich hatte noch eine vergilbte Beschreibung entdeckt und wußte nun, was ich zu tun hatte.
Vorspann, Werbung und Kulturfilm befanden sich glücklicherweise auf einer anderen Rolle, so daß der Hauptfilm direkt anlief.
»Sollen wir nach unten gehen?« fragte Suko.
»Nein, ich möchte lieber hier oben bleiben. Falls etwas schief geht.«
»Okay.« Suko und ich schauten durch die Gucklöcher auf die große Leinwand im Zuschauerraum.
Erst kam die Schrift. Die Darsteller und der technische Stab des Streifens wurden vorgestellt.
»Das kenne ich alles noch«, sagte Suko. »Gleich wird das Mädchen auftauchen und dann auch das Monster.«
Ich war gespannt.
Der Film begann wie viele. Grabsteine glaubte ich zu erkennen, dann Nebel, aufpeitschende, disharmonische Musik, die Angstgefühle in den Menschen weckte.
Suko gab den Kommentar. »Dieser Nebel hat es in sich«, flüsterte er. »Er war es, der aus der Leinwand kroch und mich fertiggemacht hat.«
»Vielleicht tut er uns diesmal den Gefallen auch«, erwiderte ich.
»Da ist das Mädchen«, sagte Suko. Die Kleine tauchte aus dem Nebel auf. Sie lachte und sang ein Lied.
Deutlich hob sich das rote Kleid neben der grauen
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