0069 - Der unheimliche Bogenschütze
Länge darauf.
Die Frau hätte jubeln können vor Freude. Der schwierigste Teil lag ihrer Meinung nach hinter ihr.
Sie riskierte es und warf einen Blick in die Tiefe.
Nein, die Distanz war noch zu groß. Wenn sie jetzt sprang, konnte sie sich auf dem unebenen Fels wer weiß was brechen.
Also noch tiefer.
Madelaine kletterte weiter. Ihr rechter Fuß glitt vom Sims herab und tastete sich weiter an der Mauer entlang. Die Spitze suchte nach Rissen und Spalten.
Ein Vogel flatterte erschreckt auf. Er hatte in der Mauerspalte gesessen, in die Madelaine schon kurz danach ihren Fuß klemmte.
Der linke folgte.
Auch für den fand sie eine Stütze.
Madelaine wunderte sich über sich selbst. Nie hätte sie gedacht, die Klettertour so einfach hinter sich zu bringen. Zwar hatte sie einige Fingernägel verloren, und sie durfte auch nicht daran denken, was geschah, wenn sie ausrutschte, aber der Wille, von ihrem Mann wegzukommen, trieb sie voran. Er war ihr innerer Motor. Was hatte sie alles unter Custer zu leiden gehabt! Er hatte sie behandelt wie das letzte Stück Dreck, hatte sie gedemütigt und geschlagen, wann immer es ihm paßte.
Nun war sie ihn los.
Oder vielmehr umgekehrt.
Noch hatte sie niemand entdeckt. Keiner schaute aus dem Fenster. Alle Scheiben blieben geschlossen. Ein paar letzte Sonnenstrahlen fielen gegen das Gemäuer und tauchten den Körper der Frau in einen goldenen Schein.
Unten im Tal wallten bereits die ersten Abendnebel. Von den kleinen Bächen aus breiteten sie sich über Wiesen und Felder.
Die Hälfte der Strecke lag hinter Madelaine.
Doch allein war sie nicht.
Jemand beobachtete sie.
Er hockte in einem Gebüsch, das einen geheimen Ausgang tarnte. Dieser Jemand war kein anderer als der unheimliche Bogenschütze.
Und er war bereit.
Ein Pfeil lag bereits auf der Sehne. Der Unheimliche brauchte nur noch abzudrücken. Die Spitze des Pfeils zielte genau auf die nach unten kletternde Frau.
Lange genug hatte der Bogenschütze sie beobachtet. Jetzt verließ er sein Versteck.
Laub raschelte, als er die Zweige auseinanderbog und sich vor dem Gebüsch hoch aufrichtete.
Der Pfeil lag bereit.
Und plötzlich konnte der Unheimliche nicht anders. Er mußte lachen.
Das Gelächter erreichte auch Madelaines Ohren. Plötzlich rann eine Gänsehaut über ihren Rücken. Sie drehte den Kopf, soweit es ging – und sah den unheimlichen Bogenschützen.
Da begann sie, gellend zu schreien…
***
Ich brachte Bill Conolly bis zu seiner Zimmertür.
»Und du willst mit diesem Verwalter reden?« fragte mich der Reporter.
»Ja.«
Bill hob die breiten Schultern. »Was versprichst du dir eigentlich davon?«
»Kann ich dir auch nicht sagen. Aber der Kerl gefiel mir nicht. Oder vielmehr dessen Reaktionen. Er benahm sich anders. War nicht entsetzt, sondern kam mir eher zufrieden vor. Ich gehe jede Wette ein, Bill, dieser Mensch weiß mehr.«
Mein Freund nickte. »Soll ich nicht doch lieber mitgehen?«
»Nein, auf keinen Fall.« Ich war entschieden dagegen. »Dein Platz ist an der Seite deiner Frau und deines Sohnes.«
Bill schlug mir auf die Schulter. »Okay, mach’s gut.«
Er verschwand in seinem Zimmer.
Ich ging eine Tür weiter und holte meine Ersatz-Beretta aus dem Koffer. Es war ein beruhigendes Gefühl zu wissen, daß sie in der Halfter steckte.
Dann suchte ich die Räume des Verwalters auf.
Sie befanden sich einen Stock tiefer. Ich mußte wieder durch den Rittersaal.
Der Tote saß als makabre Erinnerung an den geheimnisvollen Mörder noch immer an seinem Tisch. Die Decke war etwas verrutscht, und eine verkrampfte Hand schaute darunter hervor. Sie lag auf der Tischplatte, die weiterhin mit den Überresten der Speisen beladen war.
Wo die Bibliothek lag, konnte ich anhand der Richtungspfeile erkennen, die in unregelmäßigen Abständen an den Wänden hingen. Sie waren für die Besucher des Schlosses gedacht.
Ich brauchte Roman Willard nicht zu suchen, er kam mir bereits entgegen. Als er mich sah, blieb er stehen und runzelte die Stirn. »Ah, der Herr Oberinspektor persönlich. Was führt Sie zu mir?«
»Ich möchte mit Ihnen reden.«
»Bitte sehr.« Er deutete über seine Schulter. »Ich habe versucht, die Telefonleitung zu reparieren, aber ohne Erfolg. Da müssen Fachleute kommen.«
Ich lächelte. »Was nicht geht, das geht nicht«, sagte ich vage. »Aber vielleicht haben Sie für mich einige Minuten Zeit.«
»Natürlich, kommen Sie.«
Der Verwalter führte mich durch die Bibliothek in einen
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