0072 - Die Ruine des Hexers
verstanden, was die haßerfüllte, teuflische Stimme über den Weinberg schrie. Er hatte von dem Hexer Romain Rolland gehört, davon, daß er auf die Guillotine gebracht worden war.
Es war das erste Mal gewesen, daß Ramond etwas darüber erfuhr.
Die Namen und die Geschehnisse waren ihm völlig fremd, und genauso hatte seine Frau Nadine nichts darüber gewußt.
Trotzdem war sie in den Sog des Grauens gerissen worden. Wer würde der nächste sein? Und warum?
***
Als Zamorra anfuhr, war jener Teil des Weinbergs, in dem die Tote lag, in gleißendes Schweinwerferlicht getaucht. Kabel schlängelten sich von einem Kleinbus mit einem Generator den Weinberg hinauf.
Menschen blockierten die Straße.
Autos standen am Straßenrand. Ein Rotkreuz- und ein Leichenwagen, ferner Polizeifahrzeuge sowie ein paar Privat-Limousinen. Uniformierte Polizisten sperrten den Weinberg vor unerwünschten Zuschauern ab. Trotzdem wimmelte es von Leuten, die mehr oder weniger befugt waren, sich dort aufzuhalten.
Zamorra drängte sich durch die Menge, gefolgt von Nicole. Paul de Gascoyne und der Gutsverwalter Pierre Brest waren mit hergefahren und gingen hinter ihnen her.
Zamorra drang bis zur Polizeiabsperrung vor. Noch war es nicht völlig dunkel. Im Westen, da wo die Sonne untergegangen war, glühte es rot nach.
»Der Kommissar erwartet mich«, bluffte Zamorra. »Ich bin Professor Zamorra.«
Sein bestimmtes Auftreten erzielte seine Wirkung. Der Flic salutierte und ließ Zamorra und Nicole passieren. Zamorra stieg den Weinberg hinauf, drängte sich an auf der Treppe stehenden Leuten vorbei.
Die Honoratioren von Angers hatten sich eingefunden. Die Nachricht von dem neuen gräßlichen Todesfall hatte eingeschlagen, wie eine Bombe. Der Polizeifotograf schoß seine Blitzlichtaufnahmen.
Der Polizeiarzt, ein kleiner, adrett gekleideter Mann mit einem Schnurrbart, erstattete dem dicken Kommissar die erste vorläufige Meldung.
»Ich kann im Moment wirklich noch nicht sagen, was für Verletzungen die Tote alles davongetragen hat«, hörte Zamorra ihn sagen.
»Es wäre viel einfacher, wenn ich aufzählen könnte, was an ihr noch heil ist.«
»Wie beim Baron?« fragte der Kommissar.
»Wie beim Baron«, bestätigte der Polizeiarzt.
Kriminalbeamte suchten nach Spuren und Anhaltspunkten. Zamorra spürte deutlich die Atmosphäre des Unheimlichen und Übernatürlichen, viel stärker als auf der Lichtung im Wald. Denn hier war sie noch unverbraucht und frisch.
Ein Mann, ein junges Mädchen und ein Junge von etwa zwölf Jahren standen ein Stück höher auf einem Treppenabsatz. Zwei Kriminalbeamte sprachen mit ihnen. Der Junge schluchzte, und der Mann wirkte wie jemand, der soeben einen furchtbaren Schock erlitten hat.
Am gefaßtesten erschien noch das Mädchen. Der dicke Kommissar sah Zamorra und schnauzte ihn an.
»Wer sind Sie? Was haben Sie hier verloren?«
Zamorra stellte sich und Nicole vor.
»Ich bin Parapsychologe«, erklärte er. »In diesen Fall spielen übernatürliche Aspekte hinein. Die Baronesse de Gascoyne, die übrigens eine gute Bekannte des Polizeipräfekten von Angers ist, hat mich hergebeten. Kann ich nähere Einzelheiten über diesen neuen Todesfall erfahren, Kommissar?«
»Faber ist mein Name. Das ist nun schon der zweite geheimnisvolle Mordfall, den ich am Hals habe. Zamorra, Zamorra. Ihren Namen habe ich doch schon gehört. Sind Sie nicht der berühmte Geisterjä- ger, der auch schon an der Sorbonne Vorlesungen über Parapsychologie gehalten hat?«
»Ein paar von meinen Fällen haben Aufsehen erregt. An der Sorbonne habe ich gelegentlich schon gelesen, das stimmt auch.«
Kommissar Fabers Augen ruhten wohlgefällig auf der schlanken, adretten Nicole. Er war froh, einmal etwas anderes zu sehen.
Der Kommissar wies mit dem Kopf nach hinten, wo der Fotograf gerade seine Arbeit beendete.
»Was halten Sie davon, Professor?«
Der Polizeiarzt stieg die dunkle Weinbergtreppe hinunter, seine Tasche unter dem Arm.
Zamorra zuckte mit den Achseln. Er fröstelte, denn es war schon kühl. An der Stelle, wo das Amulett auf seiner Brust hing, spürte er ein Prickeln.
»Schwer zu sagen, ich bin mir noch nicht klar. Aber eines weiß ich schon, Kommissar Faber. Mit den üblichen kriminalistischen Mitteln werden Sie diesen Mord nicht aufklären können. Verdächtigen Sie vielleicht auch diesmal jemand als Täter, so wie den alten Förster Dissot?«
Der dicke Kommissar sah sich um, vergewisserte sich, daß niemand in Hörweite
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