0077 - Der Mörder aus dem Nichts
abgeschlossen.« Sie schloß ihre Türen nie ab. Es war eine Marotte von ihr.
Kurz entschlossen ging sie jetzt auf die Tür zu. Als sie auf zwei Schritte nahe gekommen war, schnappte die Klinke so überraschend zurück, daß das Mädchen erschrak und stehenblieb. Sie faßte sich sofort, öffnete energisch die Tür und sah auf den Gang hinaus.
Der Flur war hell erleuchtet, aber es war niemand zu sehen. Schräg gegenüber lag das Ankleidezimmer von Virginias Tante Ellen. Das Mädchen klopfte an die Tür. Da niemand antwortete, trat Virginia ein.
Sie fand die Tante im anstoßenden Schlafzimmer vor dem Spiegel.
»Bist du an meiner Tür gewesen?« fragte Virginia.
Ellen Creigh, eine Frau mit einem scharfen Gesicht, sah ihre Nichte unfreundlich an.
»Wie kommst du darauf?«
»Irgendwer war an meiner Tür, und ich dachte, du wärst es gewesen.« Sie wollte nicht sagen, daß sie zuerst an Lesly Ruggin gedacht hatte.
Aber die Tante antwortete sofort: »Es wird einer dieser jungen Männer gewesen sein. Ich wünsche, daß du etwas mehr Distanz zu ihnen hältst, Virginia.«
Das Mädchen wußte, daß in solchen Fällen eine längere Gardinenpredigt drohte, und sie verließ das Zimmer.
Als sie den Flur überquerte, sah sie, daß ein kleiner Gegenstand vor ihrer Zimmertür lag. Sie bückte sich und hob ihn auf. Es war ein winziger Fetzen braunen Leinenstoffes, kaum größer als ein Daumennagel.
Mammy Do wird ihn verloren haben, dachte das Mädchen, knüllte das Stoffstück zusammen und betrat ihr Zimmer.
In dem Moment, als sie die Tür schließen wollte, hörte sie auf dem Flur einen melodischen Pfiff, der aus drei klaren Tönen bestand. Lesly Ruggin pfiff diese Tonfolge häufig vor sich hin. Sofort lief Virginia zurück, aber es war niemand auf dem Gang. Fast gleichzeitig steckte auch ihre Tante den Kopf aus dem Ankleidezimmer.
»Hast du auch gehört, daß jemand gepfiffen hat?« fragte das Mädchen.
»Bin ich taub?« zischte Ellen Creigh. »Glaubst du, ich kenne die alberne Pfeiferei dieses Mr. Ruggin nicht? Sie geht mir schon seit Tagen auf die Nerven.«
»Aber er ist doch nicht hier«, sagte Virginia hilflos.
»Sein Glück! Ich hätte ihm sonst auch klargemacht, was ich von der Erziehung eines jungen Mannes halte, der in anderer Leute Häusern wie ein Gassenjunge herumpfeift.«
Der Kopf der Tante verschwand. Die Tür schmetterte mit einem Krach ins Schloß.
Virginia zog sich in ihr Zimmer zurück und vervollständigte ihre Toilette.
Das Abendessen wurde im Wohnraum eingenommen, dessen große, ebenerdige Fenster auf die Terrasse hinausblickten, von der aus man den großen Hintergarten des Hauses erreichte, der, nur durch ein Maschengitter getrennt, in den Gemeindewald von Calderwood überging. Cailleau hatte nur Rasen zwischen die Bäume sähen lassen, so daß sein Garten den Eindruck einer Parkanlage machte.
Während der Diener Antony die Vorspeise auftrug, schüttete Tante Ellen sogleich die Schale ihres Zorns über Lesly Ruggin aus.
»Ich bitte Sie, in Zukunft das Pfeifen vor Virginias Zimmer zu unterlassen, Lesly. Mag sein, daß Virginia solche albernen Gewohnheiten als Zeichen Ihrer Zuneigung schätzt. Ich finde sie unerträglich, und bedenken Sie bitte, daß ich mir Ihretwegen nicht die Ohren verstopfen kann.«
»Aber ich habe nicht gepfiffen«, verteidigte sich der junge Mann, allerdings ziemlich kraftlos, da er selbst nicht sicher war, ob er nicht doch, erfüllt noch von der Freude über Virginias Kuß, mehr gepfiffen hatte, als es ohnedies seine Gewohnheit war.
Charles Fenner schoß seinem Freund sofort vom gegenüberliegenden Platz einen mißtrauischen Blick zu. Er hatte Leslys gehobenen Zustand während des Tages bemerkt. Die Bemerkungen der Tante verstärkten seinen Argwohn.
Ellen Creigh überhörte die Verteidigung einfach. Am Tisch breitete sich eine gedrückte Stimmung aus, die nicht dadurch besser wurde, daß die Tante Bobo, einen schweren Neufundländer mit einem Kindergemüt, der vom Garten hereinkam, mit scharfen Worten auf die Terrasse zurückschickte. Dort lag der Hund, zog ein äußerst trauriges Gesicht und ließ kein Auge von der Tischgesellschaft.
Der Diener setzte die Sandwiches auf den Tisch. Virginia hätte dem Hund gern einen Happen zugeworfen, aber angesichts der schlechten Laune der Tante wagte sie es nicht, irgend etwas zu unternehmen, was sie noch mehr reizen konnte.
Immerhin blickte sie hin und wieder zu dem Hund hin, und so sah sie, wie er plötzlich seine Haltung
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