0077 - Der Mörder aus dem Nichts
betreut wird. Immerhin hat er noch einen eigenen Bürgermeister.
Früher haben hier einige Farmer gehaust, aber inzwischen haben sie ihre Weizenfelder längst als Bauland verkauft, und es siedelten sich New Yorker in Calderwood an, die bereit waren, den weiten Weg zur Arbeitsstelle in der Stadt in Kauf zu nehmen, um am Abend dafür Calderwoods gute Luft genießen zu können.
Jean Cailleau hatte sein Haus in Calderwood schon vor zehn Jahren gebaut, als er noch bei der New Yorker Filiale des Bell-Konzerns arbeitete.
Als sein Haus fertig war, erhielt er einen Forschungsauftrag der Armee und mußte sich nach Teenbrook im Staat Utah begeben. Praktisch bedeutete das, daß er sich in ein komfortables, höfliches Gefängnis begab. Jeder andere hätte dennoch einige Zeit für seine Familie herausgeschlagen, aber Cailleau verbiß sich so leidenschaftlich in die ihm gestellten Aufgaben, daß er sein Haus in Calderwood praktisch vergaß. Seine Frau war längst tot, und zu seiner inzwischen zwanzigjährigen Tochter unterhielt der Ingenieur keine anderen Beziehungen als gelegentliche Briefe, häufige Geschenke, die durch Versandfirmen überbracht wurden, und den jährlich gemeinsam mit ihr verbrachten zweimonatigen Urlaub. Das Haus verwaltete Ellen Creigh, eine Schwester seiner verstorbenen Frau, die sich Erziehungsrechte gegenüber der Tochter Virginia anmaßte, worüber es hin und wieder zu heftigen Auseinandersetzungen kam. Ferner lebten im Haus Mammy Do, eine alte Negerin, die das junge Mädchen verhätschelte, und Anthony Helm, ein Diener deutscher Abkunft.
Virginia Cailleau besuchte ein College in New York. Sie hatte versucht, Physik zu studieren, weil das ein Wunsch ihres Vaters war, aber sie hatte rasch aufgegeben, als sie einsah, daß ihr jegliche Begabung fehlte. Ihre Interessen lagen auf anderem Gebiet, und so studierte sie jetzt Literatur, Kunstgeschichte und malte ein wenig. Da sie ein hübsches Mädchen war, zog sie immer wieder Verehrer an, aber die meisten blieben nicht lange an ihrer Seite, denn Virginia zeigte wenig Sjnn für eine grobe Art der Werbung, die jene jungen Männer, die sich selbst für Halbgötter hielten, sich schuldig zu sein glaubten. — In diesen Semesterferien waren ihr zwei junge Studenten nach Calderwood gefolgt, beide dreiundzwanzig Jahre alt: Charles Fenner und Lesly Ruggin. Beide studierten Physik, beide waren Cracks der College-Baseball-Mannschaft, beide hatten gute Aussichten, ihre Abschlußprüfung mit der Note Vorzüglich zu bestehen, und beide waren sich nicht darüber klar, ob sie Virginia wirklich liebten. Jedenfalls beruhte die gemeinsame Reise als Begleiter des Mädchens auf einer an einem feuchten Abend im Kreis anderer Collegeboys abgeschlossenen Wette, wer von ihnen Virginia zuerst »schaffen« würde. Wahrscheinlich schämten sich inzwischen beide dieser Wette, aber sie gestanden es sich nicht ein.
Virginia ritt mit den beiden jungen Männern auf geliehenen Ponys. Sie badeten gemeinsam im nahen See. Sie tanzten am Wochenende auf einer Veranstaltung des Bürgerklubs von Calderwood, und hin und wieder besuchten sie zusammen Frederic Toomin, einen alten Professor, Freund und Lehrer von Virginias Vater, der Jean Cailleaus Vorgesetzter während seiner Tätigkeit bei der Bell-Gesellschaft gewesen war. Obwohl Virginia den alten Herrn verehrte, schätzte sie die gemeinsamen Besuche bei ihm nicht sehr, denn der Professor und die Studenten gerieten spätestens nach zehn Minuten in ein Gespräch über physikalische Probleme, von denen Virginia nichts verstand.
Am Abend des Tages, an dem sich Virginia von Lesly Ruggin küssen ließ, während Charles Fenner einem Fuchs nachjagte, den die Hufe des Pferdes aus seinem Versteck gescheucht hatten, geschah das erste jener Ereignisse, die das Mädchen an den Rand des Abgrundes brachten.
Virginia zog sich in ihrem Zimmer, das im ersten Stock des Hauses lag, um. Sie stand im Unterrock und war im Begriff, sich das Kleid über den Kopf zu(i streifen, als sie sah, wie sich die Klinke der Zimmertür langsam nach unten bewegte.
Sie dachte, es wäre Ruggin, der nach einer Gelegenheit suchte, sie ungestört zu sprechen, und schrie: »Komm nicht herein, Lesly. Ich bin noch nicht angezogen.« Bei diesen Worten zog sie hastig das Kleid an, knöpfte es zu, ordnete die Haare und rief: »Jetzt kannst du kommen!«
Die Klinke war immer noch heruntergedrückt, aber die Tür wurde nicht geöffnet.
»Komm herein!« rief Virginia. »Es ist nicht
Weitere Kostenlose Bücher