0078 - Der Todeszug
Gino Leone nicht eingegriffen und die Rasselbande ins Bett geschickt hätte, hätten sie ihn auch noch als Reitpferd die Treppe hinauf und hinunter gehetzt.
Suko hatte ein Herz für Kinder, und er meinte manchmal, sie seien der bessere Teil der Menschheit.
Um halb elf Uhr konnten wir uns dann von den Leones, ihren Nachbarn, Freunden und Bekannten verabschieden und in unser Hotel zurückkehren.
»Eine nette, glückliche Familie«, sagte Suko im Wagen, als wir in unser Hotel zurückkehrten. »Ich bin froh, daß wenigstens Gino Leone aus dem Schneider ist.«
Das hatten wir immerhin erreicht. Beim Hotel angekommen, gab der Sohn des Wirtes mir einen verschlossenen Briefumschlag, als wir unsere Zimmerschlüssel in Empfang nahmen. Von der Polizeistation lag keine Meldung vor. Man wußte, wo man uns erreichen konnte.
Noch in der Gaststube, während die Gäste uns neugierig betrachteten, riß ich den Briefumschlag auf. Die Anschrift auf dem Briefumschlag war mit Druckbuchstaben in Englisch geschrieben und lautete »Mr. John Sinclair, persönlich.«
Da wir im Hotel logierten, waren Gaststube, Nebenzimmer und Restaurant an diesem Abend gerammelt voll. Jeder wollte die Geisterjäger aus London sehen. Wir waren in Celano bereits zu lokalen Berühmtheiten geworden.
Der Papierbogen enthielt eine Nachricht, ebenfalls in Blockschrift: »Sehr geehrter Mr. Sinclair, ich habe Ihnen etwas sehr wichtiges zu sagen. Mit meiner Hilfe können Sie den Spuk rasch aufklären und beenden. Da ich selber darin verwickelt bin, muß ich gewisse Vorsichtsmaßregeln treffen und darauf bestehen, daß Sie allein kommen und mit mir reden. Treffen Sie mich auf dem alten Friedhof, ich warte bis Mitternacht. Sie werden überwacht. Sollten Sie etwa nicht allein sein oder andere verständigen und hinzuziehen, so ist unser Gespräch unmöglich. Ich bitte Sie dringend zu erscheinen in Ihrem Interesse und in dem vieler unschuldiger Menschen. Eine Freundin.«
Ich gab den Schrieb Suko. Er runzelte die Stirn.
»Wer hat das abgegeben?« fragte ich den Wirt, der inzwischen hinzugetreten war.
»Keine Ahnung. Der Brief lag im Briefkasten. Ist etwas nicht in Ordnung?« beantwortete sein Sohn in Englisch die Frage.
»Nein, keineswegs.«
Ich gab Suko einen Wink, und wir begaben uns oben auf mein Zimmer, wo wir ungestört reden konnten.
»Das riecht mir sehr nach einer Falle«, sagte Suko. »Denk nur an die beiden Kerle, die mich gestern abend angegriffen haben. Der eine schrie, die Mafia wäre auf uns angesetzt worden. Wir müssen aufpassen, John.«
Der Tätowierte und der schmalzlockige Paolo waren verschwunden. Die Carabinieri hatten sie nicht auffinden können, wie wir vom Leutnant wußten.
»Sicher kann es eine Falle sein«, antwortete ich. »Aber vielleicht ist es auch keine, und ich habe wirklich eine Chance, etwas zu erfahren, was uns entscheidend weiterhilft. Wenn ich daran denke, daß die Höllenhand schon heute Nacht wieder zuschlagen könnte, daß ein ganzer Eisenbahnzug mitsamt den Reisenden zur Hölle fahren könnte, läuft es mir eiskalt den Rücken hinunter. Ich muß einfach hingehen und mir Gewißheit verschaffen.«
»Aber nicht allein. Ich begleite dich.«
»Nein, Suko, ich bin nicht aus Zuckerwatte und kann auf mich aufpassen. Du bleibst hier im Hotel und wartest.« Ich sah auf die Armbanduhr. »Jetzt ist es zehn Minuten vor elf. Wenn ich bis Mitternacht nicht zurück bin und falls du bis dahin nichts von mir gehört hast, verständige die Carabinieri. Dann fahrt ihr zum alten Friedhof.«
Suko preßte die Lippen zusammen. Aber er schwieg. Er kannte mich und wußte, daß er sich von meinem Vorhaben nicht abbringen konnte.
Ich wollte in der Gaststube unten nach dem alten Friedhof fragen. Ich nahm meine Beretta und ein paar Ausrüstungsgegenstände aus meinem Einsatzkoffer mit. Das silberne Kreuz trug ich wie immer um den Hals.
Ich ließ einen sehr besorgten Suko zurück.
***
Der alte Friedhof lag außerhalb der Stadt im Einschnitt eines Berges eingebettet. Eine Pinienallee zog sich zu ihm hin. Wolkenfetzen trieben vor dem Halbmond, der bleich und zerfurcht aussah, und vor den durch den Dunst glitzernden Sternen.
Ein kalter Wind pfiff. Ich schloß den Fiat ab, den ich beim Friedhofseingang geparkt hatte. Ich stellte den Kragen meiner Wildlederjacke hoch und lockerte die Beretta in der Halfter.
Am anderthalb Kilometer entfernt liegenden Stadtrand heulte schaurig ein Hund. Eine düstere, gespannte Atmosphäre herrschte.
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