0078 - Im Geisterreich der Wikinger
ein Bild von dem Wüten der Wolfsbestie machen.«
Alle sahen ein, daß dies in der Tat das einzige war, was sie tun konnten.
Sie machten sich auf den Weg, stapften zu den Bäumen hinüber, wo sie auch wieder festen Boden unter den Füßen fanden.
Ein Bild des Grauens erwartete sie. Wohin sie blickten, sahen sie Tote.
Der Professor schüttelte sich unwillkürlich. Er hatte schon viel Grauenhaftes in seinem Leben gesehen. Dieser blutige Schauplatz hier jedoch suchte seinesgleichen.
»Professor!«
Zamorra wandte sich um, sah den heftig winkenden Legrand, der sich über eine am Boden liegende Gestalt gebeugt hatte. Er trat sofort an die Seite des jungen Mannes.
»Sehen Sie, Professor – dieser Mann lebt noch!«
Schnell bückte sich der Professor. Legrand hatte recht. Dieser Mann gab trotz einer furchtbaren Brustwunde und völlig zerschmetterter Beine noch schwache Lebenszeichen von sich. Zamorra fühlte seinen Puls, berührte seine Stirn.
Der Mann schlug die Augen auf. Der Schmerz brannte in ihnen, aber sie ließen auch erkennen, daß er voll bei Bewußtsein war. Lange würde dieser Wachzustand jedoch nicht anhalten. Der Professor gab sich keinen Illusionen darüber hin, daß er einen Sterbenden vor sich hatte, dem niemand mehr helfen konnte.
Er brachte seinen Mund ganz nah an das Ohr des Mannes.
»Warum?« fragte er. »Warum habt ihr uns überfallen? Wir führten nichts Böses im Schilde…«
Der Todgeweihte antwortete etwas – mit schwacher, ersterbender Stimme. Aber nicht die Lautstärke trug die Schuld daran, daß Zamorra und Legrand nichts verstanden. Der Dialekt, den der Mann sprach, war ihnen nicht bekannt. Zamorra glaubte jedoch, Vokabeln herauszuhören, die ihn an das Walisische erinnerten, das er leidlich beherrschte.
Das Walisische gehörte zur keltischen Sprachgruppe. Genau wie das Bretonische.
Er richtete sich auf. »Jean, kommen Sie doch mal schnell!« rief er dem Fischer zu.
»Können Sie verstehen, was er sagt?« fragte der Professor. »Sie beherrschen doch Bretonisch?«
»Bretonisch ist meine Muttersprache«, antwortete Marre beinahe stolz.
Zamorra nickte befriedigt. »Dann versuchen Sie, sich mit diesem Mann zu unterhalten. Fragen Sie, warum man uns überfallen hat. Fragen Sie ihn, wer er und seine Leute sind. Und fragen Sie vor allen Dingen, wo wir uns hier befinden.« Er machte eine kurze Pause und fügte dann noch hinzu: »Und wann!«
Jean Marre versuchte es. Und er hatte Erfolg. Er stellte Fragen und bekam Antworten. Die Stimme des Sterbenden war kaum hörbar.
Während sich seine Lippen bewegten, trat Blut aus seinen Mundwinkeln. Ein sicheres Zeichen dafür, daß das bittere Ende mit riesigen Schritten nahte.
Das Ende kam noch schneller als erwartet. Abrupt brachen die geflüsterten Worte des Mannes ab. Gebrochen starrten seine Augen ins Leere. Er war tot.
Der junge Fischer tat etwas überraschendes. Er drückte dem Toten die Augen zu, obgleich es vielleicht gerade dieser Mann gewesen war, der seinen Bruder getötet hatte.
Langsam richtete sich Marre auf.
»Eine Verwechslung«, murmelte er, »eine tragische Verwechslung. Armer Rupert…«
Zamorra ließ ihm Zeit. Er erkannte, daß Marre ziemlich durcheinander war. Mit einer unwirschen Handbewegung hinderte er Legrand daran, sofort in den Fischer zu dringen.
Seine Maßnahme war richtig. Jean Marre sprach nach wenigen Augenblicken ganz von selbst.
»Sie haben uns verwechselt«, sagte er leise. »Sie haben uns für blutrünstige Mörder gehalten. Für Wikinger… Vor ein paar Wochen haben Wikinger ihr Dorf überfallen, das gleich dort hinter den Bäumen liegt, und fast die gesamte Bevölkerung niedergemacht. Männer, Frauen und Kinder. Harmlose Bauern, die hier friedlich ihr Land bestellten. Sie haben gedacht, die Mörder seien zurückgekommen, um auch noch die überlebenden des ersten Angriffs niederzumetzeln. Sie haben uns für die Vorhut der Mörderbande gehalten.«
»Wikinger?« fuhr Lejeune dazwischen, der mittlerweile ebenfalls dabeistand. »Richtige Wikinger?«
Marre nickte. »Man schreibt hier das Jahr 804. Und wir befinden uns nach wie vor in der Bretagne.«
»Oh!« machten Lejeune und Legrand beinahe gleichzeitig.
Der Professor war nicht so überrascht wie die anderen. Er hatte gedacht, daß St. Briand in eine ferne Zukunft versetzt worden war.
Daß die dämonischen Kräfte den entgegengesetzten Weg gewählt hatten – nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit – machte im Grunde genommen keinen
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