007b - Duell mit den Ratten
die Klagelaute. Nun stürmten sie nicht mehr von allen Seiten auf sie ein, sondern schienen nur noch aus einer Richtung zu kommen. Sie lauschte angestrengt und war bald sicher, daß das gespenstische Wimmern und Stöhnen von der Treppe, die zum Dachboden hinaufführte, herkam.
Augenblicklich wurde sie sich wieder ihrer ursprünglichen Absicht bewußt, nach Judith Skeates zu suchen. Sie konnte damit gleich auf dem Dachboden beginnen, obschon sie leicht einer akustischen Täuschung zum Opfer gefallen sein konnte.
Jedes unnötige Geräusch vermeidend, nahm sie schnell Stufe um Stufe, bis sie an eine eiserne Tür gelangte. Sie stand offen und bewegte sich kaum merklich im Luftzug. Coco öffnete sie vorsichtig so weit, daß sie hindurchschlüpfen konnte. Die Angeln quietschten überhaupt nicht; sie waren gut geölt, woraus Coco schloß, daß die Tür oft benutzt wurde.
Auf dem Dachboden war es so finster, daß Coco überhaupt nichts sehen konnte. Sie mußte sich ihren Weg durch das Gerümpel ertasten. Das Wimmern und Stöhnen war nun viel deutlicher zu hören. Es klang auch nicht mehr gespenstisch, sondern durchaus menschlich. Es gehörte nicht viel Phantasie dazu, um sich vorzustellen, daß hier jemand stöhnte, der Schreckliches auszustehen hatte.
Cocos Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit. Deshalb fiel ihr auch sofort der schwache Lichtschein auf. Als sie vorsichtig hinter einen schweren, geschnitzten Holzschrank lugte, fiel ihr Blick auf eine unheimliche und grausige Szenerie. Im Licht einer Kerze sah sie eine nackte Frau, die mit gegrätschten Armen und Beinen dastand. Ihre Arme waren an einen Balken gekettet, ihre Beine steckten in schweren Schellen, die im Boden verankert waren. Ihr ganzer Körper war mit bunter Schminke bemalt, ihr Gesicht zu einer Clownmaske entstellt. Ihr Mund stand weit offen, und Coco stellte entsetzt fest, daß ihre Kiefer mit einer Spange auseinandergehalten wurden.
Das mußte Judy Skeates sein! Zu ihren Füßen hockte Prosper und hantierte an einem fünfzig Zentimeter hohen Holzgestell herum, dessen Bedeutung Coco nicht sofort klar wurde. Neben ihm stand der Käfig mit dem Papagei.
»Na, sind Sie nicht erfreut darüber, daß ich Ihnen diesmal Ihren gefiederten Liebling mitgebracht habe?« fragte Prosper scheinheilig. »Ich habe mir gedacht, daß es auf die Dauer für Sie recht eintönig sein muß, wenn ich Ihnen immer nur Ratten zum Spielen mitbringe.«
Das Mädchen gab einen unartikulierten Laut von sich.
Prosper blickte auf. »Was haben Sie gesagt? Wollten Sie mir zu verstehen geben, daß Sie sich vor Ratten fürchten? Das habe ich mir selbst schon gedacht, Miß Skeates. Seit jenem Tag, als ich Ihnen einige dieser niedlichen Tiere ins Bett legte. Deshalb habe ich diesmal auch Ihren Papagei mitgebracht. Ich wollte Ihnen eine besondere Freude machen. Denn wir stehen unmittelbar vor einem großen Ereignis.«
Er hantierte wieder an dem Holzgestell herum. Coco erkannte jetzt genau, was es darstellte: Es war eine maßstabgetreue Nachbildung einer Guillotine. Prosper zog an einer Schnur das Fallbeil hoch, bis es an seinem höchsten Punkt einrastete.
»So«, sagte er zufrieden. »Ja, Miß Skeates, wir stehen vor einem bedeutungsvollen Ereignis. Ich weiß nicht genau, was auf uns zukommt, aber ich fühle, daß sich etwas Einmaliges zusammenbraut. Deshalb will ich Ihnen auch ein außergewöhnliches Schauspiel bieten. Sehen Sie diese Miniatur-Guillotine, Miß Skeates? Ist sie nicht ein Meisterwerk? Theo hat sie für mich gebastelt. Es muß eine Heidenarbeit gewesen sein, all die vielen Einzelteile herzustellen und zusammenzubauen. Dennoch war das Ergebnis von Theos Bemühungen nicht perfekt. Ich mußte das Fallbeil zusätzlich mit Bleigewichten beschweren, um eine einigermaßen befriedigende Wirkung zu erzielen.«
Prosper machte eine Handbewegung, und das Fallbeil sauste krachend in der Führungsschiene nach unten. Coco zuckte unwillkürlich zusammen.
»Passen Sie jetzt auf, Miß Skeates!« Er öffnete den Käfig und holte den kreischenden und mit den Flügeln und Beinen um sich schlagenden Papagei heraus. Aus Judys Kehle kam ein krächzender Laut. »Was ist denn, Miß Skeates?« fragte Prosper mit gespieltem Erstaunen. »Wollen Sie nicht, daß ich die Guillotine ausprobiere? Aber sicher wollen Sie es. Sehen Sie nur!«
Er zog an der Schnur, bis das Fallbeil wieder am höchsten Punkt einrastete. Dann legte er den Kopf des in Todesangst schreienden Papageis zwischen den
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