007b - Duell mit den Ratten
sagte Coco mit nur mühsam unterdrückter Wut. »Jimmy wird sich nun noch mehr vor Prosper fürchten als bisher. Und Prosper wird sich noch mehr herausnehmen. Warum verschließen Sie die Augen vor den Grausamkeiten, die Prosper begeht? Warum greifen Sie nicht ein, wenn er die anderen Zöglinge quält und seine Lehrer fast in den Wahnsinn treibt. Warum …«
»Genug!« schrie Mrs. Reuchlin mit sich überschlagender Stimme.
Coco hielt erschrocken inne – aber nicht, weil sie sich von Irene Reuchlin einschüchtern ließ. Etwas anderes verschlug ihr die Sprache. Irene Reuchlin stand einen Augenblick wie ein wütender Racheengel da, im nächsten Moment taumelte sie mit einem Aufschrei zurück. Coco sah, wie etwas über ihre linke Gesichtshälfte zuckte, dann wurde plötzlich eine lange häßliche schwarze Narbe sichtbar, die sich von ihrer Schläfe bis unter das Kinn hinzog. Als hätte ein Unsichtbarer sie mit einem glühenden Messer gebrandmarkt.
Die junge Frau spielte alle Register ihrer Kunst aus. Sie koste seine erogenen Zonen, die sie inzwischen schon längst kannte, und tat dutzenderlei andere Dinge, von denen sie wußte, daß sie bei Dirk Rainer wirkten. Aber diesmal half alles nichts. Nach einer Viertelstunde vergeblicher Liebesmühe ließ sie sich erschöpft aufs Bett zurücksinken. »Was ist nur los mit dir, Dirk?« fragte sie verständnislos.
»Weiß nicht«, erwiderte er mürrisch.
»Du hast einen Knacks abbekommen«, sagte sie voll Überzeugung.
»Möglich.«
Sie stützte sich auf, steckte sich eine Zigarette an und paffte nachdenklich. »Ich kann dir nicht einmal vorwerfen, daß du dich passiv verhalten hast. Nein, weiß Gott, passiv warst du nicht! Aber gemurkst hast du. Es liegt an dir.«
»Wenn schon.«
»Läßt dich das so kalt? Dirk, das ist ja schrecklich! Wenn du schon so weit bist, kannst du dir gleich dein Grab schaufeln lassen. Wie willst du ohne Sex kreativ sein?«
»Ach, laß mich doch in Ruhe!«
»Im Ernst, Dirk. Ich mache mir Sorgen um dich. Oder liegt es doch an mir? Bin ich denn nicht mehr so gut wie früher?«
»Doch, doch.«
»Oder … Jetzt weiß ich es!« Sie schnippte mit den Fingern. »Du hast eine andere. Ist es das?«
»Genau!«
Er sprang plötzlich aus dem Bett, ergriff, nackt wie er war, seine Farbpalette, stocherte wild mit dem breitesten Pinsel in den Farben herum und stieß ihn dann wie ein Florett gegen das Bild auf seiner Staffelei. Er malte der Öldame einen dunklen Strich über die linke Gesichtshälfte, der von ihrer Schläfe bis zum Kinn hinunterführte. Schweratmend betrachtete er das Ergebnis seiner Genie-Explosion. Ja, er war auf dem besten Weg, sein reifstes Werk zu malen. Dieser eine alles entscheidende Strich hatte den Bann gebrochen. Er hatte die anfängliche Scheu überwunden. Jetzt würde es flott vorangehen.
Bevor er den Pinsel jedoch erneut ansetzte, zögerte er. Ein schwarzer Klecks und ein Strich. Wie sollte er das beides miteinander verbinden? Das mußte gut überlegt werden.
Er legte die Palette seufzend weg. Doch er war erleichtert und zufrieden.
»Dirk!« rief das Mädchen begeistert, als er zum Bett zurückkam. »Was sehen denn meine Augen? Ein Wunder ist geschehen!«
Er grinste. »Das bin ich erst einmal losgeworden. Jetzt will ich dir zeigen, daß deine Bemühungen doch nicht umsonst gewesen sind.«
Cocos fünfte Nacht im Kollegium Isacaaron begann. Sie saß in ihrem Zimmer auf dem Bettrand und beobachtete die Zeiger der Uhr. Es war zehn Minuten vor elf. Sie wollte noch eine Viertelstunde warten, damit sie sicher sein konnte, daß alle im Schloß schliefen, und sich dann auf die Suche nach ihrer Vorgängerin machen.
Mike Lundsdale war überzeugt, daß sich Judith Skeates noch im Schloß befand. Coco schloß sich dieser Meinung an. Mike hatte behauptet, daß Judy ihren Papagei über alles liebte. Warum hatte sie ihn dann bei ihrer Abreise nicht mitgenommen? Der glockenförmige Käfig stand immer noch in Judys Zimmer, das nun Coco bewohnte. Sie hatte sich des Papageis angenommen, fütterte ihn, pflegte den Käfig; aber es war ihr bisher noch nicht möglich gewesen, dem Papagei auch nur einen Ton zu entlocken.
Coco vernahm wieder die seltsamen Laute, die durch das Schloß geisterten und sich wie das Säuseln des Windes anhörten; und sie glaubte auch, wieder die Klagelaute zu hören, die von nirgendwo und doch von überall her zu kommen schienen.
Seltsamerweise fühlte sie sich in dieser Nacht jedoch müde. Die Geräusche hielten
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