0084 - Das Buch der grausamen Träume
schweigend über die Bühne. Zu sprechen brauchte niemand. Jeder Handgriff saß. Jetzt kletterte auch der Alte auf das Floß. Und die beiden Bewacher, die sich zuletzt um Leo gekümmert hatten. Mit ihm waren sie jedoch noch nicht fertig. Auf den Bohlen lagen dünne, reißfeste Hanfstricke. Leo Genn wurde zwischen die Stangen dirigiert und mit den Stricken daran festgebunden. Sie fesselten ihm Arme und Beine, so daß er breitbeinig stehenbleiben mußte. Die Arme hatte er erhoben, bewegen konnte er sich nicht. Die Stangen waren zu fest in den Halterungen befestigt worden. Gerald McKenzie trat noch einmal dicht vor Leo Genn hin. Er schaute ihm in die Augen und sagte mit höhnischer Stimme: »Ziita wird sich freuen, dich kennenzulernen.« Nach diesen Worten drehte er sich um und gab das Zeichen. Vier Männer stießen ihre langen Ruderstangen in das Wasser, während vom Ufer her die Leine zurückgeworfen wurde. Langsam nahm das Floß Fahrt auf…
***
Wir hörten die Schritte, die sich immer mehr entfernten. Dann wurde es still.
Sekundenlang sprach niemand von uns ein Wort. Schließlich bewegte sich Suko. Ich vernahm es am Plätschern des Wassers. »Was tun wir?« fragte der Chinese.
Ich blieb ihm die Antwort nicht schuldig. »Zusehen, daß wir hier rauskommen.«
»Sie Optimist.« Das Mädchen hatte gesprochen. Die Stimme klang leise. Ich glaubte, eine gewisse Verzweiflung darin zu hören.
»Wer sind Sie?« fragte ich.
»Mein Name ist Julia de Fries. Ich bin Holländerin.«
»Und was tun Sie in dieser gottverlassenen Gegend?«
»Ich bin getrampt. Wollte einen Trip quer durch England machen. Mit einem Lkw, der in diese Gegend fuhr, habe ich den Rest des Weges zurückgelegt.«
Ich lachte auf. »Fahren auch Wagen hierher?«
»Ja«, antwortete sie. »Einmal in der Woche. Sie holen den Torf ab, der gestochen wird.«
Julia schwieg. Ich stellte Suko und mich vor. Anschließend bat ich das Mädchen, weiterzuerzählen. »Was soll ich da groß sagen, Mr. Sinclair?«
»Wie kommt es, daß man Sie festgenommen hat? Ich meine, die Leute mußten doch einen Grund haben.«
Julia de Fries lachte. »Der ist in einem Kaff wie diesem hier leicht zu finden. Ich wollte ein paar Tage bleiben und habe den Fehler gemacht, mit den männlichen Bewohnern des Ortes zu sprechen. Das haben einige alte Weiber beobachtet.«
Ich stieß einen erstaunten Ruf aus. »Frauen gibt es hier auch?«
»Natürlich, aber es sind die reinsten Giftziegen. Sie haben mich angeschwärzt und das Gerücht verbreitet, daß ich eine Hexe sei. Ich habe nur darüber gelacht. Dabei hätte ich lieber das Weite suchen sollen. Einen Tag danach war es zu spät. Da lauerten sie mir auf. Das halbe Dorf war auf den Beinen. Die Lastwagen – die einzige Verbindung zur Außenwelt – waren verschwunden, und ich stand allein gegen die Horde. Sie trieben mich in die Enge, bespien mich, hielten mir Holzkreuze vor das Gesicht, und sie wollten mich sogar steinigen. Doch im letzten Augenblick überlegten sie es sich anders. Dieser Zwerg schlug vor, die Hexenprobe zu machen. Alle waren einverstanden. Sie sperrten mich in dieses Verlies, und das weitere kennen Sie ja. Ich habe keine Hoffnung mehr.«
»Noch leben Sie«, sagte ich. »Sind Sie gefesselt?«
»Ja.«
»Und womit?«
»Komische Frage, mit Stricken natürlich.« Ich stieß einen Pfiff aus.
»Was ist denn jetzt schon wieder?« fragte sie. Ich hatte am Klang ihrer Stimme den ungefähren Standort von Julia de Fries festgestellt.
»Bleiben Sie an Ihrem Platz«, sagte ich. »Ich komme zu Ihnen.«
Langsam bewegte ich mich vor. Meine Füße plantschten durch das Wasser. Ich schob die linke Schulter ein wenig vor und stieß damit gegen etwas Weiches. Atem streifte mein Gesicht.
»Okay«, hörte ich die Stimme nicht weit von meinem Ohr weg.
Suko lachte glucksend. »Willst du flirten?«
»Das gerade nicht, aber unsere junge Mitgefangene könnte mir einen kleinen Gefallen tun.«
»Immer, wenn ich kann.«
»Können Sie Ihre Finger bewegen, Miss de Fries?«
»Ja, ein wenig. Aber sagen Sie doch Julia.«
»Okay, Julia.«
Ich erklärte ihr, daß wir mit Draht gefesselt worden waren. Draußen hatte ich bei Sukos Fesseln gesehen, wie der Draht gebunden war. Die Männer hatten ihn ein paarmal um unsere Gelenke gewunden und dann die beiden Enden zusammengedreht. Die Endstücke standen etwas auseinander. Wenn sie Suko auf diese Art und Weise gefesselt hatten, sah ich keinen Grund, warum sie das mit mir nicht auch getan haben
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