0094 - Das Grauen lauert in Soho
versunkenen Reich der Khmer handeln. Benannt ist es nach Pierre Chatelneau, der das Original angeblich im Jahr 1954 in einer vom Dschungel überwucherten uralten Stadt im heutigen Kambodscha gefunden hat. Als ich das Angebot bekam, sah ich im Lexikon nach. Über die alten Khmer gibt es kaum Literatur. Mit den Roten Khmer, die jüngst durch die Presse gingen, hatten sie jedenfalls nicht das geringste gemein.«
Das stimmt, dachte Zamorra in Gedanken versunken. Die alten Khmer hatten schon ganzen Generationen von Historikern unlösbare Rätsel aufgegeben. Man wußte über sie lediglich, daß sie aus dem austroasiatischen Sprachraum stammten, früher über Laos, Siam, Kochinchina und die angrenzenden Gebiete verbreitet waren und im ersten nachchristlichen Jahrhundert unter indischem Einfluß bereits eine Hochkultur herausgebildet hatten. Übriggeblieben war nichts mehr von diesem alten Volk. Die Jahrtausende hatten es ausgelöscht. Nur die Dschungelstadt Angkor kündete noch davon, daß sic überhaupt einst Hinterindien bis hinunter zur Malaiischen Halbinsel bevölkert hatten.
Zamorra legte die hektographierten Blätter zur Seite.
»Und jetzt sagen Sie mir, woher Sie das haben.«
»Ich kaufte das in einem ziemlich abstrusen Laden in Soho«, gestand Norna de Brainville. »Kurulu nannte sich der Besitzer, wenn ich mich recht erinnere.«
***
Hark Marner schritt durch die Nacht wie ein Todesengel. Er wandte den Blick weder nach links noch nach rechts. Ein Stärkerer bestimmte seinen Weg. Sein eigener Wille versank zur Bedeutungslosigkeit. Er hatte sich schon wieder etwas verändert seit dem Mord an Smitty Lowdon, doch Hark Marner war das egal.
Er marschierte, um Jerry Winter zu töten.
Was war schon dabei?
Nichts!
Jerry Winter mußte sterben, weil dessen Schicksal das so bestimmt hatte. Kein Grund, sich deshalb Gedanken, geschweige denn Gewissensbisse zu machen.
Der Komplice früherer Tage wohnte im selben Viertel. Auch in Shoreditch. Nur etwas weiter auf Islington zu. Ganz in der Nähe des Essex-Road, um genau zu sein. Dort, wo die verkommenen Arbeitergettos begannen, zu denen auch eine Schrebergartenanlage gehörte. Jerry Winter schlief in einem der Holzhäuschen, die über die kaum hundert Quadratmeter großen Parzellen verteilt waren.
Kein Mensch war mehr auf der Straße. Die Pubs hatten schon längst geschlossen. Eine trostlose Gegend. Vier oder fünf Mal fuhren Autos an Hark Marner vorbei, doch deren Fahrer achteten nicht auf den wie betrunken dahinschwankenden Mann mit den hängenden Armen und dem blutbesudelten Trenchcoat.
Hark Marner spreizte die Finger und ballte sie wieder zu Fäusten, als wolle er zugreifen. Er würde auch zugreifen.
Schon sehr bald.
In der heruntergekommenen Gartenanlage brannte nicht eine einzige Lampe, doch Marner stolperte mit traumwandlerischer Sicherheit vorwärts. Gerade so, als würde er auf Schienen laufen. Sein Ziel war die Parzelle 35 A.
Die verrostete Angel quietschte jämmerlich, als er mit dem Fuß die niedrige Holztür aufstieß. Das klagende Geräusch mußte mehr als hundert Meter weit zu hören gewesen sein. Hark Marner scherte sich nicht darum. Er war auf Mord programmiert. Er befolgte einen Befehl.
Mit raumgreifenden Schritten stapfte er auf die Hütte zu, die Jerry Winter als Schlafplatz diente. Eine Kröte quakte. Marner zertrat sie. Ein häßlicher Fleck blieb auf dem Plattenweg zurück.
Dann war er an der Tür.
Marner senkte seinen massigen Schädel und benützte ihn als Rammbock. Das Holz der Türfüllung zersplitterte berstend, doch er fühlte keinen Schmerz. Er brach mit den Schultern durch und auch mit den Knien. Wie ein Raupenfahrzeug, das die Hütte dem Erdboden gleichmachen sollte.
Jerry Winter fuhr von seinem schmalen Feldbett hoch. Mondlicht fiel genau auf sein kreidebleiches Gesicht, auf seine im Schreck geweiteten Augen.
Aber Jerry Winter war kein Smitty Lowdon. Er war sogar noch größer als Hark und etwas breiter in den Schultern. Seinen Bizeps konnte er so hart anspannen, daß noch die Spitze eines herunterfallenden Stiletts davon abprallte. Auch waren Jerry Winters Reflexe voll in Ordnung. Die Schrecksekunde überwand er ungeheuer schnell.
Hark Marners zupackende Hände griffen ins Leere.
Jerry war zur Seite gewichen und von seinem schmalen Lager gesprungen. Er fragte auch nicht lange, was Hark hier zu suchen habe. Die Situation war zu eindeutig, Mordlust leuchtete aus den Augen des Rotbärtigen.
Jerry Winter schlug mit aller Kraft zu.
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