0094 - Das Grauen lauert in Soho
wie Sie in den Besitz dieses Buches gekommen sind. Und dann möchte ich es natürlich sehen.«
»Sie verlangen sehr viel von mir, Monsieur le Professeur. Es gibt ein ungeschriebenes Gesetz unter uns Illusionisten: Gib einem Außenstehenden nie ein Geheimnis preis.«
Zamorra winkte ab.
»Machen Sie etwas halblang, Mademoiselle«, sagte er in einem Anflug von Ärger. »Ich will von Ihnen nicht wissen, wie man Damen zersägt oder sie quer über die Bühne schweben läßt. Diese Geheimnisse bleiben Ihnen unbenommen. Doch daß Sie sich heute abend mit Hilfe finsterer Mächte in eine Tigerin verwandelten und diesen Vorgang vor den Augen einiger hundert Zuschauer wieder rückgängig machten — das geht mich durchaus etwas an. Außer, Sie ziehen es vor, daß ich die Öffentlichkeit über Ihren neuesten ›Trick‹ aufkläre. Ich fürchte, man würde wenig Verständnis dafür haben, daß Sie dämonische Kräfte eines billigen Effektes willen bemühen.«
Norna de Brainville zuckte zusammen.
»Nur das nicht«, warf sie schnell ein. »Ich wäre für alle Zeiten unten durch. Die Engländer glauben noch an Geister und Dämonen. Sie denken ähnlich darüber wie die Inder über ihre heiligen Kühe. Wollen Sie mich erpressen, Monsieur?«
»Ich will einzig und allein, daß Sie Vernunft annehmen«, antwortete Professor Zamorra ärgerlich. »Magie ist kein Metier, mit dem man sich spaßhalber abgibt. Oder um damit spektakuläre Erfolge zu verbuchen und Geld zu verdienen, so wie Sie das zelebrieren. Ich denke, ich habe mich deutlich genug ausgedrückt.«
»Oh, das haben Sie, Monsieur. Ich verrate Ihnen auch kein Geheimnis, wenn ich Ihnen gestehe, daß mir schon vorher ähnliche Bedenken gekommen sind.«
»Das freut mich, für Sie«, erwiderte Zamorra sarkastisch. »Könnten Sie mir jetzt Ihre Ausgabe des Buches Chatelneau zeigen?«
Norna de Brainville seufzte und stand auf. »Ich habe das Buch hier im Zimmer.«
Sie ging an eine Wand und rückte ein Bild zur Seite. Ein echter Gainsborough, wie Zamorra mit Kennerblick feststellte. Das Gemälde zeigte eine Ernteszene. Lichtdurchflutet und ganz nach der Manier des alten Meisters. Hinter dem Bild war ein Tresor in die Wand eingelassen. Norna de Brainville drehte am Zahlenschloß. Sie schien Professor Zamorra inzwischen zu vertrauen, denn sie machte keinerlei Anstalten, ihm den Blick auf den Drehring zu verwehren. Sie kannte ohnehin seinen Ruf als integere Persönlichkeit. Einem anderen hätte sie nicht einmal erlaubt, mit ihr über ihre Tricks zu sprechen. Dann hatte es sie doch sehr mitgenommen, daß Zamorra ihr auf den Kopf Zusagen konnte, welchen Umständen sie die Beherrschung des vor einer Stunde gezeigten Kunststücks verdankte.
Lady Kensington, auf deren Initiative hin sie den Professor aus Frankreich eingeladen hatte, hatte nicht übertrieben gehabt: Wenn jemand sich nicht aufs Glatteis führen ließ, dann war er es.
»Hier«, sagte sie nur und ließ ein hektographiertes und mit einer Büroklammer zusammengeheftetes Bündel Papier vor Zamorra auf den Rauchglastisch fallen. »Das ist es.«
Professor Zamorra zog verwundert die Augenbrauen hoch.
»Das ist alles?« fragte er. Er wunderte sich noch mehr, als er das Faksimile aufschlug. Eine derart billige Nachbildung dieses Buches hatte er nie erwartet. Seine eigene Ausgabe war mit Menschenblut auf gegerbte Menschenhaut geschrieben. Obendrein war das Werk nicht in der Schrift der alten Khmer verfaßt sondern in neuzeitliches Englisch übersetzt. Zamorra kam aus dem Staunen kaum heraus.
Doch zweifellos handelte es sich um die getreue Übersetzung des seltenen Originals, wie ihm schon das Überfliegen der ersten Seite bestätigte.
»Das ist alles«, meinte Norna de Brainville und setzte sich wieder.
»Ich hatte dieses Zeugs« — sie vollführte die entsprechende wegwerfende Geste — »zuerst auch für einen fürchterlichen Unsinn gehalten und fühlte mich um mein Geld geprellt.«
»Sie haben es also gekauft«, stellte Zamorra unnötigerweise fest. Er verlor sonst kaum ein Wort zuviel. Aber auf eine derartige Ausgabe des Chatelneau zu stoßen, war selbst für ihn etwas unverdaulich. Er mußte seine Gedanken sammeln.
»Wissen Sie eigentlich, was es mit dieser Schrift auf sich hat?« fragte er schließlich. Seine Betroffenheit war ihm immer noch anzuhören.
Norna de Brainville zuckte halbherzig die Schultern.
»Nur das, was mir beim Kauf erzählt wurde. Es soll sich um die Übersetzung einer magischen Schrift aus dem
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