0094 - Das Grauen lauert in Soho
Brackiges Wasser schlug gegen abbröckelnde Molen, die wie stumpf und brüchig gewordene Zähne in das stillgelegte Hafenbecken hinausragten. Boote, halbe Wracks nur noch und von ihren ehemaligen Besitzern im Stich gelassen, dümpelten an verrosteten Ketten.
Ratten, streunende Katzen und Hunde fühlten sich hier wohl. Es roch nach altem Öl, Moder und dem Mangel an einer Kanalisation. Erst auf den zweiten Blick war zu erkennen, daß einige der fensterlosen Bauten, die die Docks nach Norden hin abgrenzten, noch bewohnt waren. Pennbrüder, Stadtstreicher und Kriminelle der niedrigsten Kategorie verkamen mit ihrer Umgebung um die Wette.
Kurulu steuerte den Austin in einen offenen Lagerschuppen. Quietschend nahmen ein paar Nager Reißaus, um sofort neugierig und hungrig aus ihren Löchern wiederzukommen. Sie umschnüffelten Kurulus Beine, und der Mann versetzte einem, der ungeliebten Tiere einen derben Tritt, der es gegen die rückwärtige Wand schleuderte.
Sofort machten sich die anderen Ratten über ihren verletzten Artgenossen her.
Kurulu sperrte den Wagen vorsorglich ab. Schon einmal war es ihm passiert, daß er ihn bei seiner Rückkunft ohne Räder und Frontscheibe angetroffen hatte. Die Gegend taugte wirklich nichts.
Doch für seine Zwecke taugte sie prächtig.
Am Holzschuppen hing noch ein gemauerter Anbau von der Größe einer kontinentalen Dorfkapelle. Der Eingang dazu war mit einer dicken Stahltür und zwei Vorhängeschlössern abgesichert. Kratzer, die vermutlich von Brechstangen herrührten, zeugten vom Interesse der »Anlieger«, die man dem Raum dahinter entgegenbrachte. Doch die Tür war massiv wie eine Stahlbetonmauer und hätte auch noch einer Stange Dynamit wiederstanden.
Kurulu holte einen Schlüsselbund heraus und schloß auf. Knarrend öffnete sich die Tür. Kurulu tastete nach einem Lichtschalter. Eine trübe, schirmlose Funzel flammte flackernd auf.
Ein Einbrecher, der bis hierher vorgestoßen wäre, wäre maßlos enttäuscht gewesen, denn mehr als die Lampe an der Decke enthielt der gemauerte Raum nicht.
Der Polynesier kauerte in einer Ecke nieder. Seine Finger suchten und fanden eine kaum fühlbare Erhebung auf dem Fußboden. Er drückte mit dem Daumen darauf, und ein leises Summen ertönte.
Unweit von ihm schob sich der Boden zur Seite und gab eine Steintreppe frei, die steil in die Tiefe führte. Dumpf hörte man das Klatschen der Wellen gegen die Kaimauern. Es war das einzige Geräusch in dieser Stille. Naßkalte Luft schlug Kurulu entgegen, doch der Kanake war daran gewohnt. Hier war der Ort, von dem aus er seinen Einsatz leiten würde.
Die Zeit war gekommen.
Der Wichtigkeit dieses Augenblicks angemessen, rasten Kurulus Gedanken kurz zurück zu jenem Tag im Dschungel, an dem alles begonnen hatte.
Er lag geduckt im Dreck des aufgeweichten Dschungelbodens. Mit verhaßter Monotonie prasselte der Monsunregen auf das Blätterdach des Waldes. Die Nässe durchdrang alles. Die Haut wurde welk und aufgeschwemmt davon. Seit Tagen hatte er keinen vernünftigen Bissen mehr zwischen die Zähne bekommen und sich von Insektenlarven und Wurzeln ernährt, hatte die verdammte Lügengeschichte hundertmal verflucht, in der erzählt wurde, daß der Dschungel seine Kinder allemal ernährt. Ihn hatte er ausgehungert. Die Rippen stachen gegen den verrotteten Stoff seines zerfetzten Khakihemdes. Die ausgefransten Hosen schlotterten ihm um die abgemagerten Waden.
Und dann die Nase noch tiefer hinein in den Morast. Er hörte ihre Schritte, wie sie durchs Unterholz brachen, wie sie sich mit pfeifenden Schnitten eines Hausmessers einen Weg durch das Lianengestrüpp bahnten.
Sie waren schon so nah, und seit zwei Tagen hetzten sie ihn bereits.
Vor drei Tagen hatte Kurulu noch einige Leidensgenossen bei sich gehabt. Gemeinsam wollten sie sich durch die feindlichen Linien bis nach Thailand durchschlagen. Schließlich waren sie einem Trupp der Roten Khmer in die Hände gefallen.
Die sprichwörtliche Grausamkeit jener Truppe, von der in westlichen Magazinen die Rede gewesen war, erwies sich leider nicht als Gerücht. In ihrem Haß waren diese Dschungelsoldaten noch viel vertierter, als die Verfasser von Horrorgeschichten das sich je auszumalen vermochten.
Kurulu hatte ihnen geschickt den Buckel vollgelogen und ihnen jene Lügen erzählt, die sie unbedingt hören wollten. Die erste sich bietende Gelegenheit zur Flucht hatte er genutzt, und jetzt waren sie ihm dicht auf den Fersen. Sie würden ihn nicht einfach
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